Orientpolitik und Bosnische Krisis. 355
Die sogenannte jungtürkische Bewegung im Osmanischen Reiche
datierte bereits seit längerer Zeit. Ihr Ziel war von Anfang an: Be—
seitigung des Absolutismus des Sultans, Inkraftsetzung einer Berfassung,
Einführung moderner europäischer Einrichtungen überhaupt im innerstaat-
lichen Leben des Türkischen Reiches, Gleichberechtigung aller im Türkischen
Reiche vereinigten Nationalitäten und Religionsbekenntnisse. Alle diese
verschiedenen und vielfach einander bekämpfenden Elemente und Strö-
mungen sollten unter der Fahne des nationaltürkischen Staatsgedankens
gesammelt werden. Die jungtürkische Bewegung hatte ihre Propaganda
immer mit Heimlichkeit und Borsicht ausüben müssen, denn Abdul Hamid
war mit Todesurteilen und Strafen nicht sparsam. Im Ausland, zumal
in Paris und London, auch in Brüssel lagen die Agitationsmittelpunkte
der Zungtürken, die auch ihre Bildung und Erziehung durchweg in Frank-
reich und England, zu einem kleineren Teile in Deutschland zu vollenden
pflegten. Die Bewegung hatte von Anfang an einen starken jüdischen
Einschlag — daher auch später der Sitz des Komitees in Saloniki —, der
sie mit den Mittelpunkten des europäischen Kapitals in Berbindung brachte
und in Fühlung erbielt. Die jungtürkische Bewegung wurde in Frankreich
und Großbritannien eifrig und kräftig unterstützt, denn man betrachtete sie
dort als das Mittel, um Abdul Hamid zu beseitigen und die freundschaft-
lichen Beziehungen zwischen dem Türkischen Reiche und den beiden euro-
päischen Zentralmächten, im besonderen dem Deutschen Reiche, zu zer-
stören. Das Sandschakbahnprojekt des Freiherrn v. Aehrenthal war nicht
nur ein Schlag ins Gesicht der großserbischen Idee, sondern, wie wir sahen,
auch ein großes ÄArgernis für Großbritannien, Frankreich und Rußland.
So ergibt sich für den Beurteiler ein einfacher Zusammenhang zwischen
diesen Borgängen und den Revaler Abmachungen. Diese fanden nur
wenige Monate nach Beröffentlichung des Sandschakbahnprojektes statt,
und zwar unter völliger Umgehung und Ausschaltung Osterreich-Ungarns,
welches als einzige Balkangroßmacht ebenso tief wie legitim an der Ge-
staltung der Balkanverhältnisse und nicht zum wenigsten an denen in
der Türkei interessiert war. Diese Ausschaltung bedeutete schon an sich
die politische Kriegserklärung Rußlands und Großbritanniens an die
Doppelmonarchie und damit an ihren Berbündeten.
Auch den Türken sagte das Revaler Programm, daß an Stelle des
russisch-österreichischen Mürzsteger Abkommens nunmehr ein russisch-
englischer Operationsplan getreten war und bestimmt sein sollte, der euro-
päischen Türkei den Todesstoß zu geben. Bieher hatte Abdul Hamid und
hatten die türkischen Staatemänner ihre Politik auf der Grundlage der
widerstreitenden russisch-englischen Interessen mit Erfolg für die Erhal-
rung des Türkischen Reiches ausüben können. Nun waren sich diese beiden
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