Orientpolitik und Bosnische Krisis. 559
nellen und des Bosporus für russische Kriegsschiffe einträte. Im Sommer
1908 soll Iswolski noch einmal im gleichen Sinne an Aehrenthal geschrieben
haben, und bei ihrer Zusammenkunft im September wurden sie sich wieder-
um einig, bis auf den angeblichen Vorbehalt I#swolskis: eine internationale
Konferenz müsse eine derartige Annexion sanktionieren. Auf alle Fälle
hat der russische Minister wiederbolt, abgesehen von den erwähnten
früheren Zusicherungen der russischen Regierung, seine Zustimmung zum
Aehrenthalschen Plane gegeben. Allerdings glaubte er wohl nicht, daß
Kaiser Franz Joseph und seine Minister den Entschluß jetzt finden würden!
In einer späteren gereizten Polemik nach der Annexion verstummten
Jswolski und seine Presse sofort, als Aehrenthal drohte, er werde das
Buchlauer Protokoll veröffentlichen.
Die Annexionserklärung sagt in ihrem Schlußsatze: der Sandschak
Nowibasar werde gleichzeitig der Türkei zurückgegeben. Diese Rückgabe
erfolgte freiwillig aus eigener Initiative, nicht, wie italienischerseits später
behauptet worden ist, auf italienischen Druck und als Bedingung italienischer
Zustimmung zur Annexion. Mit dem Berzicht auf den Sandschak und
seiner Rückgabe an die Türkei verfolgte die österreichisch-ungarische Politik
mehrere Zwecke: sie war eine beweiskräftige Kundgebung, daß Öster-
reich-Ungarn nicht die ihm nachgesagten Absichten nach Gebietserweite-
rung auf der Balkanhalbinsel hege, daß das Projekt einer österreichischen
Sandschakbahn aufgegeben werde, obgleich ÖOsterreich-Ungarn vertrag-
lich zu beidem berechtigt war: zu zeitlich unbegrenzter Besetzung des Sand-
schak und zum Bau der Sandschakbahn. Erweitert und vertieft wurde dieser
Zweck der Rückgabe durch den Hinblick auf die Türkei, man hatte die An-
nexion, um Verschleppungen und einem Hereinreden dritter Mächte vorzu-
beugen, vollzogen, ohne der Türkei eine vorberige Anzeige zu machen.
Eleichzeitig mit der Annexion gab man der Pforte den Sandschak Nowi-
basar wieder frei zurück, obgleich sie keinerlei Recht darauf hatte. Man hoffte
offenbar, durch diese Morgengabe die junge Türkei zu gewinnen und ihr
über die Annexion auch ihren eigenen Landsleuten gegenüber hinwegzu-
helfen. Diese Berechnung war an sich nicht unrichtig, denn in Wirklichkeit
erhielt die Kürkei damit einen unvorhergesehenen Zuwachs, während Oster-
reich-Ungarn durch die Annexion sich um keinen Quadratkilometer ver-
größerte, sondern nur einen tatsächlich längst bestehenden Zustand in staats-
rechtlich endgültige Formen überführte. Ob das Aufgeben des Sand-
schake Nowibasar im Hinblick auf Serbien richtig gewesen ist, muß zum
mindesten dahingestellt bleiben. Besonders gelegentlich des Balkankrieges
1912 warf sich diese Frage auf.
Die Verkündigung der Annexion erregte einen europäischen Sturm,
dessen Zentrum in London lag. Die großbritannische Presse wütete mit