Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

360 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
der ihr stets zur Berfügung stehenden sittlichen Entrüstung gegen das ver- 
tragsbrüchige Österreich-Ungarn. Der Londoner Botschafter Österreich- 
Ungarns, der vorher in sehr freundschaftlichen Beziehungen zum Könige 
gestanden hatte, wurde gesucht unbhöflich behandelt, als er zwei Tage vor 
der Veröffentlichung an König Eduard ein die Anzeige der Annexion ent- 
haltendes Schreiben seines Kaisers überbrachte. Er erklärte: „Man hat 
mich fortgejagt.“ Die Aberraschung war in London ebenso vollkommen 
wie in Paris. Man vermochte dort natürlich nicht zu leugnen, daß der tat- 
sächlich bestehende Zustand auf der Balkanhalbinsel durch die Annexion 
nicht geändert werde. In London und St. Petersburg griff man deshalb 
den formalen Standpunkt auf und erklärte: Osterreich-Ungarn habe ein- 
seitig und eigenmächtig den Berliner Vertrag abgeändert, den Artikel 25 
verletzt. Solche Anderungen dürften aber nur durch alle Unterzeichner- 
mächte vollzogen werden. Deshalb müsse die sofortige Berufung eines 
europäischen Kongresses oder einer Konferenz erfolgen und diese habe über 
die Berechtigung der österreichischen Entschlüsse und Wünsche zu befinden. 
Wohin solle es mit der politischen Sittlichkeit in der Welt kommen, wenn 
zur Gewohnheit werde, internationale Verträge eigenmächtig zu ändern, 
sobald die eine oder andere Macht keine Lust mehr habe, daran festzu- 
halten. 
Die türkische Regierung erhob Protest gegen die Annexion und organi- 
sierte einen umfassenden Bopykott österreichischer Waren auf türkischem 
Gebiete. Die russische Regierung und Presse hielten sich zunächst gemäßigt, 
nahmen dann aber eine immer schroffere Haltung an angesichts der vorwärts 
drängenden englischen „Entrüstung“ und angesichts der heimlich von Peters- 
burg aus geschürten wütenden Erregung der Serben. Das serbische Bolk 
sah seine großserbischen Zukunftsträume durch die Annexion Bosniens und 
der Herzegowina wieder in unendliche Fernen gerückt, und nicht minder hart 
fand es sich durch die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar an das Türkische 
Reich betroffen. Dazu kam, daß am Annexionstage Fürst Ferdinand von 
Bulgarien sich zum Zaren der Bulgaren ausrufen ließ und Bulgarien für 
unabhängig vom Türkischen Reiche erklärte. Damit wuchs die Stellung 
Bulgariens in einer für Serbien besonders peinlichen Weise, da man mit 
Wahrscheinlichkeit annehmen konnte, daß die bulgarische Unabhängigkeits- 
erklärung und die österreichisch-ungarische Annerion nicht ohne vorberiges 
Einverständnis zwischen König Ferdinand und dem Kaiser Franz Joseph 
stattgefunden habe. 
Der Schlag, welcher die serbischen Hoffnungen traf, traf zugleich die 
Petersburger Pläne ebenso wie die Londoner. Die entschlossene Annexion 
hatte den Prozeß serbischer Revolutionierung in den Okkupationsgebieten 
unterbrochen und ihr für die Zukunft zum mindesten ein Hindernis ent-
	        
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