Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Orientpolitik und Bosnische Krisis. 361 
  
  
gegengesetzt. Die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar an die Türkei hatte 
den Serben auch diese Brücke ihrer Ausdehnungswünsche genommen. Die 
serbische Nation tobte, schrie nach Krieg, rüstete und machte im festen Ver- 
trauen mobil: Rußland und die anderen Ententemächte würden es nicht 
im Stiche lassen, sondern zum mindesten mit gezogenem Schwerte binter 
Serbien und seinen Ansprüchen stehen. 
Oie russische Regierung war damals den Anforderungen einer großen 
europäischen Krisis nicht gewachsen und nach keiner Richtung bin in der 
Lage, ihren Standpunkt bis in die äußersten Konsequenzen zu vertreten, 
also Krieg führen zu können. Die Armee war nicht bereit, und alle inneren 
Zustände waren derart, daß Zar und Regierung an einen großen Krieg 
nicht denken konnten; eine Tatsache, die den europäischen Zentralmächten 
natürlich ebenso bekannt war wie Großbritannien und Rußland. ODer 
Minister des Tußeren, Herr Iswolski, erklärte schon bald im Berlaufe der 
Spannung, Rußland werde um der bosnischen Sache willen einen Krieg 
nicht führen. Damit war die Krisis sachlich entschieden, sofern Österreich- 
Ungarn und das Deutsche Reich entschlossen waren. Das letztere hatte 
über seine Stellung in der bosnischen Frage keinerlei Zweifel gelassen. 
Zwei Tage nach der Veröffentlichung der Annexion richtete der Reichs- 
kanzler, Fürst Bülow, die folgende Weisung an den deutschen Botschafter 
zu Wien und ließ an anderen diplomatischen Stellen dieselbe Sprache# 
führen: „Ich lege besonderen Wert darauf, daß man in Wien Hinsichtlich 
der Annexionsfrage volle Sicherheit über unsere zuverlässige Haltung habe. 
Es sei dies für uns ein Erfordernis selbstverständlicher Loyalität.“ — Nach 
Beendigung der Krisis in seiner Rede vom 29. März 1909 im Oeutschen 
Reichstage führte Bülow zur Rechtfertigung dieser Stellungnahme den 
folgenden Satz aus der Bismarckschen Rede vom 6. Februar 1888 an: 
„Ein Staat wie Osterreich-Ungarn wird dadurch, daß man ihn im Stiche läßt, 
entfremdet und wird geneigt werden, dem die Hand zu bieten, der seiner- 
seito der Gcgner eines unzuverlässigen Freundes gewesen ist.“ — Es gab 
damale in Deutschland Vertreter auch anderer Ansichten, welche fanden, daß 
das Deutsche Reich keinen Anlaß gehabt habe, bis in alle Konsequenzen 
hinein sich binter Osterreich-Ungarno Balkanpolitik zu stellen. Dazu kam, 
daß der Vollzug der Annexion der Okkupationsgebiete formal vertrags- 
widrig war, zumal im Jahre 1871 auf der Londoner Konferenz (Meer- 
engenfragen) alle Großmächte erklärt hatten, internationale Verträge oder 
Teile von solchen könnten nicht einseitig, sondern nur in Ubereinstimmung 
aller Bertragsunterzeichner aufgehoben oder abgeändert werden. An dem 
fokmalen österreichischen Berstoße gegen die internationalen Abmachungen 
konnte an und für sich die Tatsache nichts ändern, daß der territoriale 
Status quo auf dem Valkan durch die Annexion nicht geändert wurde,
	        
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