Orientpolitik und Bosnische Krisis. 361
gegengesetzt. Die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar an die Türkei hatte
den Serben auch diese Brücke ihrer Ausdehnungswünsche genommen. Die
serbische Nation tobte, schrie nach Krieg, rüstete und machte im festen Ver-
trauen mobil: Rußland und die anderen Ententemächte würden es nicht
im Stiche lassen, sondern zum mindesten mit gezogenem Schwerte binter
Serbien und seinen Ansprüchen stehen.
Oie russische Regierung war damals den Anforderungen einer großen
europäischen Krisis nicht gewachsen und nach keiner Richtung bin in der
Lage, ihren Standpunkt bis in die äußersten Konsequenzen zu vertreten,
also Krieg führen zu können. Die Armee war nicht bereit, und alle inneren
Zustände waren derart, daß Zar und Regierung an einen großen Krieg
nicht denken konnten; eine Tatsache, die den europäischen Zentralmächten
natürlich ebenso bekannt war wie Großbritannien und Rußland. ODer
Minister des Tußeren, Herr Iswolski, erklärte schon bald im Berlaufe der
Spannung, Rußland werde um der bosnischen Sache willen einen Krieg
nicht führen. Damit war die Krisis sachlich entschieden, sofern Österreich-
Ungarn und das Deutsche Reich entschlossen waren. Das letztere hatte
über seine Stellung in der bosnischen Frage keinerlei Zweifel gelassen.
Zwei Tage nach der Veröffentlichung der Annexion richtete der Reichs-
kanzler, Fürst Bülow, die folgende Weisung an den deutschen Botschafter
zu Wien und ließ an anderen diplomatischen Stellen dieselbe Sprache#
führen: „Ich lege besonderen Wert darauf, daß man in Wien Hinsichtlich
der Annexionsfrage volle Sicherheit über unsere zuverlässige Haltung habe.
Es sei dies für uns ein Erfordernis selbstverständlicher Loyalität.“ — Nach
Beendigung der Krisis in seiner Rede vom 29. März 1909 im Oeutschen
Reichstage führte Bülow zur Rechtfertigung dieser Stellungnahme den
folgenden Satz aus der Bismarckschen Rede vom 6. Februar 1888 an:
„Ein Staat wie Osterreich-Ungarn wird dadurch, daß man ihn im Stiche läßt,
entfremdet und wird geneigt werden, dem die Hand zu bieten, der seiner-
seito der Gcgner eines unzuverlässigen Freundes gewesen ist.“ — Es gab
damale in Deutschland Vertreter auch anderer Ansichten, welche fanden, daß
das Deutsche Reich keinen Anlaß gehabt habe, bis in alle Konsequenzen
hinein sich binter Osterreich-Ungarno Balkanpolitik zu stellen. Dazu kam,
daß der Vollzug der Annexion der Okkupationsgebiete formal vertrags-
widrig war, zumal im Jahre 1871 auf der Londoner Konferenz (Meer-
engenfragen) alle Großmächte erklärt hatten, internationale Verträge oder
Teile von solchen könnten nicht einseitig, sondern nur in Ubereinstimmung
aller Bertragsunterzeichner aufgehoben oder abgeändert werden. An dem
fokmalen österreichischen Berstoße gegen die internationalen Abmachungen
konnte an und für sich die Tatsache nichts ändern, daß der territoriale
Status quo auf dem Valkan durch die Annexion nicht geändert wurde,