562 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
auch das tatsächliche Recht auf seiten Osterreich-Ungarns war. Die Ver-
pflichtungen des Deutschen Reiches aus dem deutsch-österreichischen Bünd-
nisse wurden nicht berührt, denn dieses bezog sich lediglich auf einen An-
griff gegen Osterreich-Ungarn von russischer Seite. Die deutschen Kreise,
welche damals meinten, eine solche Stellungnahme Deutschlands wäre
ein sehr gefährlicher Präzedenzfall und entspräche nicht der Auffassung des
Fürsten Bismarck vom Bündnisse, hatten an und für sich in gewissem Sinne
recht. Es war klar vorauszusehen, daß jede neue Balkankrise dieselbe Lage
und dieselbe Frage wieder aufwerfen und akut machen müsse. Oie deutsche
Stellungnahme schuf gewissermaßen eine deutsche Verantwortlichkeit und
Bindung durch die österreichisch-ungarische Balkan- und Orientpolitik,
für etwas also, was sich der Kontrolle des Deutschen Reiches entzog. Die
einzige Möglichkeit, diesen Zustand wieder gesund zu machen, lag in einer
völligen Gemeinsamkeit der Balkan- und Orientpolitik der beiden Mächte,
jedenfalls insofern, als Österreich-Ungarn in Zukunft keine Schritte
aktiver Orientpolitik täte, ohne der deutschen Zustimmung restlos gewiß
zu sein.
1908 lagen die Dinge, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, inso-
fern annehmbar, als die Annexion in der Tat eine dringend notwendige
Maßnahme bildete, um den durch internationalen Bertrag gewährleisteten
Gebietsstand Osterreich-Ungarns zu schützen. Darin überhaupt bestand die
Gunst und auch Aberlegenheit der politischen und diplomatischen Position
Osterreich-Ungarns in der Krisis.
Unter den Mächten der Entente war zunächst, so kann man jedenfalls
nach ihrem Benehmen schließen, die Auffassung maßgebend, das Deutsche
Reich werde wohl bereit sein, seinem Bundesgenossen jede diplomatische
Unterstützung zuteil werden zu lassen, es aber auf die Kriegsfrage nicht
ankommen lassen. Man dachte an die deutsche Marokkopolitik und daran,
daß während der verflossenen Jahre die Politik des Deutschen Reiches
der Erhaltung des Friedens schließlich alles andere untergeordnet habe.
So versuchte man unter englischer Führung durch ungeheures Geschrei
und Geblüffe auf die beiden Mittelmächte zu wirken, in der Gewißbeit, daß
das Spiel gewonnen sein würde, sobald eine der beiden Mittelmächte
oder beide sich einschüchtern ließen. Mit welcher Richtachtung die Balkan-
politik der Ententemächte seit 1905 über Osterreich-Ungarn in den Fragen
des Balkans und des Orients hinweggegangen war, haben wir gesehen.
Man glaubte beinahe allgemein — in noch höherem Grade als 1914 —,
daß die Doppelmonarchie nicht imstande sei, überhaupt Krieg zu führen,
sondern durch Schwäche und innere Zerrüttung gleich nach Kriegöbeginn
zusammenbrechen werde. Besonders in Serbien war man überzeugt hier-
von. Wir möchten annehmen, daß damals nicht nur Ermutigung von Petere-