Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Orientpolitit und Bosnische Krisis. 305 
  
burg nach Belgrad floß, sondern auch das Umgekehrte der Fall gewesen 
ist. In Serbien glaubte man, daß es nur darauf ankäme, Österreich- 
Ungarn in einen Krieg zu verwickeln. Dann würde Rußland nicht ruhig 
bleiben wollen, Deutschland aber keine Lust haben, sich in den Krieg hinein-- 
ziehen zu lassen; Osterreich-Ungarn würde daraufbin nachgeben und sich das 
Todesurteil sprechen. Serbien würde dann den Vorteil davon haben und 
im Schutze Rußlands die große flawische Sache auf dem Balkan mächtig 
fördern. 
Die „Kompensation“, welche Serbien verlangte, wurde zuletzt als 
Mindestmaß auf einen Landstreifen, einen „Korridor“, beschränkt, der das 
serbische Gebiet mit dem Adriatischen Meere verbinden sollte. Die Annexion 
der Okkupationogebiete und die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar an 
die Türkei nahmen den Serben sonst für immer die Hoffnung, das Gebiet 
ihres von allen Seiten durch andere Länder umgrenzten Reiches bis ans 
Meer auszudehnen. Die Gewährung eines solchen Korridors konnte aus 
manchen später zu erörternden Gründen nicht erfolgen, außerdem gab die 
bosnische Annexion Serbien keinerlei Recht und Anspruch auf Kompen- 
sationen irgendwelcher Art. Auch von England kräftig und heimlich ermutigt, 
wurde die serbische Haltung aber derart herausfordernd, daß eine starke 
Partei in Österreich-Ungarn darauf drängte: die Würde der Ooppel- 
monarchie verlange, daß man mit Serbien kurzen Prozeß mache, ihm ein 
Altimatum stelle, abzurüsten, gegebenenfalls in serbisches Gebiet einzurücken. 
Militärische Grenzmaßnahmen waren gleich getroffen worden. 
Auch der Bundesgenosse Italien hatte sich nach der Annexion sehr 
entrüstet gebärdet, nachdem nur wenige Tage vorher die Herren Tittoni 
und Zswolski zu Oesio zusammengekommen waren und sich über ihre 
Balkanziele in „voller Ubereinstimmung“ gefunden hatten. In der Tat hat 
Italien in den Balkanfragen seit 1908 nur selten und kurze Zeit auf seiten 
seiner Bundesgenossen gestanden. Nach Ausspruch der Annexion verlangte 
die öffentliche Meinung Italiens stürmisch „Kompensationen“ und über- 
schlug sich in Außerungen des Hasses und der Wut gegen Österreich-Ungarn. 
Die italienische Regierung mußte aber auch öffentlich den Standpunkt ein- 
nehmen, daß der Dreibundvertrag Italien keine Handhabe gäbe, denn das 
Recht auf Kompensationen würde nur vorhanden sein, wenn Österreich- 
Ungarn neue Erweiterungen seines Gebietes auf der Balkanhalbinsel vor- 
genommen hätte. Schließlich erkannte man italienischerseito auch an: 
die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar bilde einen Beleg für ÖOsterreichs 
Entschlossenheit, keine Politik der Gebietserweiterung zu treiben. Schließ- 
lich verzichtete Baron Aehrenthal auch auf den Artikel des Berliner Ver- 
trages, welcher Osterreich-Ungarn das Recht der Seepolizei an der monte- 
negrinischen Küste usw. gab, also auf ein Recht am Adriatischen Meere,
	        
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