Orientpolitit und Bosnische Krisis. 305
burg nach Belgrad floß, sondern auch das Umgekehrte der Fall gewesen
ist. In Serbien glaubte man, daß es nur darauf ankäme, Österreich-
Ungarn in einen Krieg zu verwickeln. Dann würde Rußland nicht ruhig
bleiben wollen, Deutschland aber keine Lust haben, sich in den Krieg hinein--
ziehen zu lassen; Osterreich-Ungarn würde daraufbin nachgeben und sich das
Todesurteil sprechen. Serbien würde dann den Vorteil davon haben und
im Schutze Rußlands die große flawische Sache auf dem Balkan mächtig
fördern.
Die „Kompensation“, welche Serbien verlangte, wurde zuletzt als
Mindestmaß auf einen Landstreifen, einen „Korridor“, beschränkt, der das
serbische Gebiet mit dem Adriatischen Meere verbinden sollte. Die Annexion
der Okkupationogebiete und die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar an
die Türkei nahmen den Serben sonst für immer die Hoffnung, das Gebiet
ihres von allen Seiten durch andere Länder umgrenzten Reiches bis ans
Meer auszudehnen. Die Gewährung eines solchen Korridors konnte aus
manchen später zu erörternden Gründen nicht erfolgen, außerdem gab die
bosnische Annexion Serbien keinerlei Recht und Anspruch auf Kompen-
sationen irgendwelcher Art. Auch von England kräftig und heimlich ermutigt,
wurde die serbische Haltung aber derart herausfordernd, daß eine starke
Partei in Österreich-Ungarn darauf drängte: die Würde der Ooppel-
monarchie verlange, daß man mit Serbien kurzen Prozeß mache, ihm ein
Altimatum stelle, abzurüsten, gegebenenfalls in serbisches Gebiet einzurücken.
Militärische Grenzmaßnahmen waren gleich getroffen worden.
Auch der Bundesgenosse Italien hatte sich nach der Annexion sehr
entrüstet gebärdet, nachdem nur wenige Tage vorher die Herren Tittoni
und Zswolski zu Oesio zusammengekommen waren und sich über ihre
Balkanziele in „voller Ubereinstimmung“ gefunden hatten. In der Tat hat
Italien in den Balkanfragen seit 1908 nur selten und kurze Zeit auf seiten
seiner Bundesgenossen gestanden. Nach Ausspruch der Annexion verlangte
die öffentliche Meinung Italiens stürmisch „Kompensationen“ und über-
schlug sich in Außerungen des Hasses und der Wut gegen Österreich-Ungarn.
Die italienische Regierung mußte aber auch öffentlich den Standpunkt ein-
nehmen, daß der Dreibundvertrag Italien keine Handhabe gäbe, denn das
Recht auf Kompensationen würde nur vorhanden sein, wenn Österreich-
Ungarn neue Erweiterungen seines Gebietes auf der Balkanhalbinsel vor-
genommen hätte. Schließlich erkannte man italienischerseito auch an:
die Rückgabe des Sandschaks Nowibasar bilde einen Beleg für ÖOsterreichs
Entschlossenheit, keine Politik der Gebietserweiterung zu treiben. Schließ-
lich verzichtete Baron Aehrenthal auch auf den Artikel des Berliner Ver-
trages, welcher Osterreich-Ungarn das Recht der Seepolizei an der monte-
negrinischen Küste usw. gab, also auf ein Recht am Adriatischen Meere,