Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

5068 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
Erscheinung trat von dem Augenblick an ein, als Großbritannien sich nicht 
nur als mitentscheidende Macht in die Balkanfragen hineinzudrängen 
wußte, sondern führend und richtunggebend dort wurde. Diese Politik 
und ihr Ziel war ursächlich bedingt durch die britisch-russische Bersöhnung 
einerseits, durch die deutsch-türkische Freundschaft und die deutsche Orient- 
politik anderseits. ÖOsterreich-Ungarn mit seiner geographischen Lage, 
mit seinen Balkaninteressen und Balkanschwierigkeiten sollte das Mittel 
zum Zweck bilden: Seine Bernichtung war beschlossen worden, als die 
Absprengung vom Bündnisse mit Deutschland nicht gelang. Oie groß- 
britannische Führerschaft dieser weit angelegten politischen Operationen 
lag klar auf der Hand, die Bosnische Krisis bildet ein Stück der großbritan- 
nischen Einkreisungspolitik. 
Durch die Beilegung der eigentlichen Krisis war der diplomatische 
Erfolg unbedingt auf der deutsch-österreichisch-ungarischen Seite. Die 
beiden verbündeten Mächte hatten nicht nachgegeben und dadurch die 
Anerkennung dessen erreicht, was ÖOsterreich-Ungarn mit der Annexion 
bewirkt hatte. Der durch die Tatsache ihrer Festigkeit und bestätigten 
Zielbewußtheit erreichte Achtungserfolg der beiden Mächte war ebenso 
wertvoll, denn das Oeutsche Reich hatte einen solchen mindestens ebenso 
nötig wie Osterreich-Ungarn. Die Schlüsse aber, welche man in Deutschland 
durchweg aus dem Verlaufe der Krisis zog, waren unrichtig. Wenn man 
meinte, und wenn auch Fürst Bülow in seiner mehrfach angezogenen 
Schrift zu Anfang des Jahres 1914 schrieb, das luftige Gebilde der Ein- 
kreisung sei an den handfesten Tatsachen der Festlandspolitik zerbrochen, 
so traf das in dieser Allgemeinheit nicht zu, wohl aber wurde diese Theorie 
seitdem zu einer nicht ungefährlichen deutschen Selbsttäuschung. Oie 
Selbsttäuschung beruhte in erster Linie auf der Verkennung der Tatsache, 
daß Rußland damals, drei Jahre nach der Beendigung des Russisch-Zapa- 
nischen Krieges, und kaum aus den Stürmen der Revolution herausgelangt, 
weit von der Kriegaobereitschaft entfernt war. Das wußten alle Beteiligten, 
und es war kein Wunder nach den Vorgängen. Wissen müssen hätte man 
aber damals, daß der Tiefpunkt russischer Ohnmacht und Unbereitschaft 
bereits überwunden war und beides sich in verhältnismäßig raschem 
A#steigen befand, ja, daß mit aller Kraft von Rußland und Frankreich 
gearbeitet wurde, um die militärische Kraft und Angriffsbereitschaft zu 
erhöhen. Deshalb war die allgemeine Schlußfolgerung schädlich und 
irreführend, daß die Tripelentente mit ihren Anhängern dauernd zur 
Unfähigkeit verdammt sei, gegen die beiden Mittelmächte Krieg zu führen. 
Mißlungen war der Tripelentente unter Großbritanniens Führung in 
der Hauptsache nur die Spekulation auf deutsche Schwäche und Unent- 
schlossenheit und infolgedessen entstehende Uneinigkeit zwischen den bei-
	        
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