Orientpolitik und Boenische Krisie. 369
den verbündeten Mittelmächten. Großbritannien hatte die Erfahrung ge-
macht, daß der Augenblick zur Demütigung Deutschlands durch gemein-
samen ODruck oder Krieg erst zu erhoffen wäre, wenn Rußland auf die nötige
Höhe militärischer Macht gelangt sein würde. Schon vor der Balkankrife
war das zu Reval bekanntlich mit Uberlegung besprochen worden, und die
russischen Autoritäten hatten sechs bis acht Jahre, also die Zahre 1914 bis
1916 als Termin angegeben. So betrachtet, stellt sich die von Großbritan-
nien inszenierte Bosnische Krisis als eine Art Generalprobe der Tripel-
entente dar, die zeigen sollte und zeigte, wie weit man gehen könne.
Ein großer Erfolg von damals wohl meist übersehener Tragweite war
für Großbritannien die Tatsache, daß man die russische Front vom fernen
Osten weg nach dem Balkan und nahen Orient gedreht hatte und daß das ge-
samte russische Streben in gesteigerter Leidenschaftlichkeit sich auf die Be-
herrschung der Balkanhalbinsel, auf die Bernichtung des Türkischen Reiches
und auf den Besitz von Konstantinopel konzentrierte. Der ferne Osten war
im russischen Volk nie populär gewesen, ebensowenig wie der Krieg gegen
Japan. Man war froh, als alles zu Ende war. Im nahen Osten und auf
der Balkanhalbinsel jedoch vereinigten sich die historischen Bestrebungen
und Zielpunkte: machtpolitisch, religionspolitisch, wirtschaftlich und rassen-
haft. Alle diese Ziele lagen sichtbar vor der russischen Tür. Hindernisse
bedeuteten nur Osterreich-Ungarn und das Deutsche Reich. Das Wort
Skobelews, der Weg nach Konstantinopel gebe durch das Brandenburger
Tor, gewann nach dem ostasiatischen Kriege eine neue und viel greif-
barere Bedeutung, weil im Gegensatz zur ganzen russischen Geschichte
Großbritannien jetzt nicht mehr Gegner Rußlands im Orient, sondern
Bundesgenosse geworden war, geeint durch den gemeinsamen Haß gegen
das Deutsche Reich. Das war kein sentimentaler Haß, sondern ein solcher,
hervorgegangen aus der tatsächlichen Uberzeugung, daß ein mächtiges
Deutsches Reich den wirtschaftlichen und politischen Zielen Großbritanniens
ebenso wie denen Rußlands ein unüberwindliches Hindernis entgegenftellte.
Die deutsche Orientpolitik und deren bisherige Ergebnisse bildeten den
Boden, auf dem Großbritannien und Rußland einander, aber, wie be-
tont werden muß, unter großbritannischer Führung und auf großbritan-
nische Veranlassung hin gefunden hatten.
Die diplomatische Aiederlage Rußlands in der Bosnischen Krisis von
1908 leistete den großbritannischen Endzielen einen Vorspann von unüber-
trefflichem Werte. Ganz Rußland vom Bauern und Kleinbürger bis zu
den leitenden Staatsmännern und der Hofpartei schäumte vor Haß und
Nachedurst gegen Osterreich-Ungarn und das Deutsche Reich, und mehr-
als je zuvor einte sich das ganze Bolk im Gedanken, durch erhöhte An-
strengungen eines Tages in die Lage zu kommen, die Scharte von 1908
Graf Reventlow, DHeutschlands auewärtige Politie. 24