Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

370 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
auszuwetzen. Daß der russisch-englische Zusammencschluß durch diese Er- 
bitterung an Festigkeit gewann und gewissermaßen seine Weihe erhielt, 
bedarf nur der Erwähnung. Dieser Erfolg durch die Niederlage selbst ist 
für Großbritannien von höchster Bedeutung gewesen. 
Auf der Balkanhalbinsel saß seit der Bosnischen Krisis, gewisser- 
maßen als Außenposten der russischen Politik, das rachedurstige Serbien. 
Ebenso wie die Serben die Macht und die innere Kraft der österreichisch- 
ungarischen Monarchie unterschätzten, so hatten auch die europäischen Mittel- 
mächte eine unrichtige Auffassung von dem serbischen Reiche und Volke. 
Wie spätere Ereignisse und hauptsächlich die des großen Krieges gezeigt 
haben, ist Serbien mit Unrecht so wenig ernst genommen worden, zumal 
man auch nach der Krisis den serbischen Staat österreichischerseits ge- 
wissermaßen als unbeachtliche Größe behandelte und damit einen wahr- 
scheinlich nicht folgenlosen Fehler beging. Das Türkische Reich war 
mit dem Gewinn des Sandschaks Nowibasar aus der Krisis hervor- 
gegangen und hatte damit etwas erreicht, was man zuvor nicht einmal 
geträumt hatte. Gleichwohl war es den englischen und französischen 
Treibereien gelungen, Stimmung gegen Deutschland und Österreich-Ungarn 
zu machen, nicht nur wegen ihrer Haltung in der Angelegenheit der An- 
nexion, sondern hauptsächlich weil man den Türken sagte, das Deutsche 
Reich, im besonderen der Deutsche Kaiser, sei als Freund Abdul Hamids 
ein Anhänger fortschrittfeindlicher Reaktion im Türkischen Reiche und ein 
Feind des jungtürkischen Regimes. Daß diesen Bemühungen nur vorüber- 
gehender Erfolg beschieden wurde, begründete sich zumal darin, daß die 
deutschen Vertreter in Konstantinopel rubig und geschickt arbeiteten und 
auch die Zungtürken später die Tatsache begriffen, daß einzig das Deutsche 
Reich und ÖOsterreich-Ungarn keine verkappten, sondern wirkliche Freunde 
waren. Das Revaler Programm der Ententemächte konnte wohl zeit- 
weilig, aber nicht auf die Dauer vergessen werden. Eine der großen Er- 
fahrungen der Bosnischen Krisis für das Oeutsche Reich und seine Politik 
war die, daß seine Orientverbindung und deren Ziele von Großbritannien 
wie von Rußland als eine Bedrohung ihrer vitalen Interessen angesehen 
und dementsprechend entschlossen und geschlossen bekämpft werden würden. 
Oer Umschwung, ja die vollkommene Verschiebung der Grundlagen der 
deutschen Politik und Wirtschaft des Deutschen Reiches seit 1890 war 
enorm, viel größer, als man sich damals in Deutschland eingestand und alo 
man gemeinhin begriff. Die Schwierigkeiten wuchsen besonders deshalb, 
weil Großbritannien wie Rußland aus der Balkanhalbinsel anstatt einer 
Verbindungsbrücke von den Mittelmächten nach dem Orient eine Barre 
für sie zu machen bestrebt waren. 
Die Revaler Zusammenkunft im Juli 1908 war von den leitenden
	        
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