Orientpolitik und Bosnische Krisis. 571
deutschen Kreisen gleich sehr ernst genommen worden. Fürst Bülow hat
sich dem Anschein nach mehrere Male vom russischen Minister Jswoleki
versichern lassen, „daß keine, weder offene noch geheime russisch-englische
Abmachungen bestünden, die sich gegen deutsche Interessen richten könnten“.
Diese Versicherung war ebenso nichtssagend wie unwahr, wird auch beim
Fürsten Bülow schwerlich Glauben gefunden haben. Ees handelte sich nur
um eine Form. Daß er aber an Zswolski die Frage stellte, und zwar wieder--
holt, bewies die Bedeutung, welche man in Berlin mit Recht der Sache
beimaß.
Unmittelbar nach der Revaler Zusammenkunft wurde in der Presse
von einer Rede des Deutschen Kaisers berichtet, die er auf dem Truppen-
Üübungsplatze zu Döberitz unter Hinweis auf die Möglichkeit einer nahen
Kriegsgefahr gehalten habe. Die Rede wurde halbamtlich in Abrede ge-
stellt, jedoch in Wendungen, die zeigten, daß man die Lage tatsächlich für
ernst hielt und daß die Fragen des nahen Orients ihren Angelpunkt
bildeten. Das halbamtliche Blatt warnte eindringlich gerade die deutsche
Presse vor Legendenbildung, da das Deutsche Reich dauernd das Ziel von
Verleumdungen bilde, die von allen Seiten gegen seine Politik gerichtet
würden. Wiederum wenige Tage später kam der Deutsche Kaiser zu Segel-
regatten nach Hamburg; er wurde dort von der Menge in ungewöhnlich
erregter Stimmung und mit der „Wacht am Rhein“ empfangen. Zn einer
Ansprache darauf sagte der Kaiser: „Als ich mich fragte, wo der Grund
für den Auebruch der Begeisterung läge, da erschallte spontan, dann immer
mächtiger anschwellend, unser altes deutsches Sturmlied. Nun wußte ich
genug. Meine Herren, ich danke Ihnen dafür, ich habe Sie verstanden.
Es war der Druck der Freundeshand einem Manne, der entschlossen seinen
Weg geht und der weiß, daß er jemanden hinter sich hat, der ihn versteht
und der ihm helfen will.“ —
Aus diesen Außerungen des Kaisers und aus denen des Reichskanzlers
gebt hervor, daß man eine europäische Krisis infolge Revals im Anzuge
sab und die aggressive Tendenz der von König Eduard organisierten Ein-
kreisung wohl fühlte. Daraus ergibt sich weiter, daß die bosnische Annexion
der Tripelentente mit ihren Vasallen nur einen Anlaß, gleichsam ein Ventil
bedeutete.
Das Verhältnis des Deutschen Reiches und Osterreich-Ungarns war,
unbeschadet des alten Bündnisvertrages und über ihn hinaus, auf eine
neue gemeinsqame Grundlage gelangt, nicht durch die Bogenische Krisis,
sondern diese hatte nur gezeigt, daß dem so war. Man konnte, und viel-
leicht mit subjektivem Rechte, diese Tatsache bedauern und als besorglich
ansehen, aber sie war kein Ding an sich, sondern eine notwendige Folge der
deutschen Orientpolitik. Wollte das Deutsche Reich diese, so mußte es nach
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