Orientpolitik und Boenische Krisie. 373
als nicht unbedeutend. In der öffentlichen Meinung der beiden Mächte ent-
stand große Erregung, und Frankreich nahm, die Regierung an der Spitze,
die heroische Pose des zu Unrecht Bedrohten, aber zum Kampfe Bereiten
an. Drohungen lagen der deutschen Regierung wohl von vornherein sehr
fern, aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie zunächst fest auftrat und dann
eine nachgiebige Haltung einnahm. Die Untersuchungen ergaben, daß der
deutsche Beamte in der Begünstigung der Deserteure über seine Befug-
nisse hinausgegangen war, während anderseits französische Tätlichkeiten
gegen den Beamten festgestellt wurden. Man übertrug die Sache dem
Haager Schiedsgerichte, welches im Mai 1909 ein mehr zuungunsten der
deutschen Sache neigendes Urteil fällte. Der Fall von Casablanca war an
sich unbedeutend, wurde aber, wie gesagt, nicht sehr geschickt behandelt, be-
sonders insofern, als man den Franzosen Gelegenheit zum Glauben gab,
die deutsche Regierung habe erst gedroht und einschüchtern wollen und sei
dann zurückgewichen. Das damalige Kabinett Clémenceau betonte einmal
über das andere, Frankreich habe keine Furcht, sondern sei zum Kriege be-
reit. König Eduard von England teilte der französischen Regierung mit:
Großbritannien sei zum Kriege an Frankreichs Seite entschlossen wie 1905.
Der deutschen Regierung war der Zwischenfall von Casablanca auch
aus einem andern Grunde höchst unerwünscht gewesen: sie trug sich bereits
im Sommer 1908 mit dem Gedanken, die deutsch-französische Reibungs-
fläche in Marokko zu beseitigen und dadurch bessere Allgemeinbeziehungen
zwischen den beiden Mächten zu schaffen. Man glaubte, dieses werde sicher
zu erreichen sein, wenn die deutsche Regierung auedrücklich ihre politische
Deeinteressierung an und in Marokko erkläre. Auf der anderen Seite hoffte
man auf wirtschaftlichem Gebiete mit Frankreich einträchtig zusammen
arbeiten zu können und so die Möglichkeit einer fruchtbareren wirtschaft-
lichen Arbeit in Marokko zu erbalten als bièher. Die Bosnische Krisis
verstärkte den deutschen Wunsch nach einer deutsch-französischen Ber-
ständigung. Aur unterbrochen durch die Casablancasache, wurden Ver-
handlungen eingeleitet und unter führender Mitwirkung des späteren
Staatesekretärs v. Kiderlen-Waechter zum Abschluß gebracht. Das Er-
gebnis der Berhandlungen bildete die folgende Vereinbarung, welche am
9. Februar 1000 unterzeichnet wurde:
„Die Negierung der Französischen Republik und die deutsche Reichs--
regierung haben, von dem gleichen Bestreben bewegt, die Ausführung der
Akte von Algeciras zu erleichtern, vereinbart, die Tragweite, die sie ihren
Bestimmungen beilegen, näher zu bestimmen, in der Absicht, für die Zu-
kunft jede Ursache eines Mißverständnisses zwischen ihnen zu vermeiden.
Infolgedessen erklären die Regierung der Französischen Republik in voller
Hingabe an die Integrität und die Unabhängigkeit des Scherifischen Reiches