Orientpolitik und Bosnische Krisie. 375
haben nicht ermangelt, diesen Glauben zu stärken, zunächst, um die Ver-
einbarung zustandekommen zu lassen, nachher, um Zeit zu gewinnen.
Häufige Kabinettswechsel seit 1909 erleichterten der französischen Re-
gierung dieses für sie fruchtbare dilatorische Berfahren.
Die Beröffentlichung des deutsch-französischen Marokkoabkommens
traf zeitlich annähernd zusammen mit einem Besuche König Eduards von
England in Berlin. Es war der erste Besuch, den der König im Laufe
seiner damals schon acht Jahre dauernden Regierung dem Oeutschen Kaiser
machte. König Eduard hatte diese selbstverständliche Pflicht der Höflich-
keit an beinahe allen europäischen Höfen mit passender Pünktlichkeit er-
füllt. Um so größer war der Mangel an Höflichkeit dem Deutschen
Kaiser und dem Deutschen Reiche gegenüber gewesen. Der Besuch verlief
in der üblichen Weise, der König erklärte in seinen Tischreden: die Er-
haltung des Friedens sei immer das Ziel seiner Bemühungen gewesen.
Er sagte das, nachdem seine Politik und die von ihm geleitete des britischen
Kabinettes acht Zahre lang alles getan hatte, um den großen Koalitions-
krieg gegen das Deutsche Reich vorzubereiten, und durch die Bosnische Kri-
sis Europa an den Rand des Krieges gebracht hatte. Einige Wochen nach
dem Besuche sprach der Deutsche Reichskanzler von diesem als von einem
in jeder Hinsicht glücklichen Begebnisse. Er pries die Worte aufrichtiger
Friedensliebe und Freundschaft, die der König in Berlin gesprochen habe,
und sagte: „Es gibt ja kaum zwei Länder, die für ihre nationale Arbeit
so aufeinander angewiesen sind wie Deutschland und England.“ Der
Reichskanzler erörterte ausführlich die Größe und Art der beiderseitigen
Handelsbeziehungen, kurz, es hatte beinahe den Anschein, als ob Fürst
Bülow glaubte, es werde nunmehr eine neue und bessere Zeit für die groß-
britannisch-deutschen Beziehungen anbrechen. Ob der Kanzler es wirklich
geglaubt hat, steht dahin, möglicherweise hatten seine damaligen Aus-
führungen mehr den Charakter eines Wunsches als den einer gläubigen
Hoffnung. Der größte Teil der deutschen Bevölkerung freilich gab sich in
weiten Kreisen wieder dem alten gedankenlosen Optimismus hin, und die
gewohnte Beweisführung wurde wiederholt: es gäbe ja keinen wirklichen
Konfliktögrund zwischen den beiden Ländern, sie seien vielmehr aufeinander
angewiesen und jedes sei der beste Kunde des anderen, es handle sich ledig-
lich um Mißverständnisse und unverantwortliche Hetzereien von „Chau-
vinisten und Panzerplattenpatrioten“ auf beiden Seiten. Man# war weit
von der Wahrheit entfernt, daß die automatisch wachsende Stellung Deutsch-
lands auf dem Festlande und seine erstaunlich zunehmende Bedeutung als
seefahrender und ausführender Industriestaat gerade den Konfliktsgrund
bildeten, um dessentwillen England im letzten Grunde alle seine großen
Kriege geführt hat.