Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Orientpolitik und Bosnische Krisie. 375 
  
haben nicht ermangelt, diesen Glauben zu stärken, zunächst, um die Ver- 
einbarung zustandekommen zu lassen, nachher, um Zeit zu gewinnen. 
Häufige Kabinettswechsel seit 1909 erleichterten der französischen Re- 
gierung dieses für sie fruchtbare dilatorische Berfahren. 
Die Beröffentlichung des deutsch-französischen Marokkoabkommens 
traf zeitlich annähernd zusammen mit einem Besuche König Eduards von 
England in Berlin. Es war der erste Besuch, den der König im Laufe 
seiner damals schon acht Jahre dauernden Regierung dem Oeutschen Kaiser 
machte. König Eduard hatte diese selbstverständliche Pflicht der Höflich- 
keit an beinahe allen europäischen Höfen mit passender Pünktlichkeit er- 
füllt. Um so größer war der Mangel an Höflichkeit dem Deutschen 
Kaiser und dem Deutschen Reiche gegenüber gewesen. Der Besuch verlief 
in der üblichen Weise, der König erklärte in seinen Tischreden: die Er- 
haltung des Friedens sei immer das Ziel seiner Bemühungen gewesen. 
Er sagte das, nachdem seine Politik und die von ihm geleitete des britischen 
Kabinettes acht Zahre lang alles getan hatte, um den großen Koalitions- 
krieg gegen das Deutsche Reich vorzubereiten, und durch die Bosnische Kri- 
sis Europa an den Rand des Krieges gebracht hatte. Einige Wochen nach 
dem Besuche sprach der Deutsche Reichskanzler von diesem als von einem 
in jeder Hinsicht glücklichen Begebnisse. Er pries die Worte aufrichtiger 
Friedensliebe und Freundschaft, die der König in Berlin gesprochen habe, 
und sagte: „Es gibt ja kaum zwei Länder, die für ihre nationale Arbeit 
so aufeinander angewiesen sind wie Deutschland und England.“ Der 
Reichskanzler erörterte ausführlich die Größe und Art der beiderseitigen 
Handelsbeziehungen, kurz, es hatte beinahe den Anschein, als ob Fürst 
Bülow glaubte, es werde nunmehr eine neue und bessere Zeit für die groß- 
britannisch-deutschen Beziehungen anbrechen. Ob der Kanzler es wirklich 
geglaubt hat, steht dahin, möglicherweise hatten seine damaligen Aus- 
führungen mehr den Charakter eines Wunsches als den einer gläubigen 
Hoffnung. Der größte Teil der deutschen Bevölkerung freilich gab sich in 
weiten Kreisen wieder dem alten gedankenlosen Optimismus hin, und die 
gewohnte Beweisführung wurde wiederholt: es gäbe ja keinen wirklichen 
Konfliktögrund zwischen den beiden Ländern, sie seien vielmehr aufeinander 
angewiesen und jedes sei der beste Kunde des anderen, es handle sich ledig- 
lich um Mißverständnisse und unverantwortliche Hetzereien von „Chau- 
vinisten und Panzerplattenpatrioten“ auf beiden Seiten. Man# war weit 
von der Wahrheit entfernt, daß die automatisch wachsende Stellung Deutsch- 
lands auf dem Festlande und seine erstaunlich zunehmende Bedeutung als 
seefahrender und ausführender Industriestaat gerade den Konfliktsgrund 
bildeten, um dessentwillen England im letzten Grunde alle seine großen 
Kriege geführt hat.
	        
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