376 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
Der Besuch des Königs von England war in der Tat ohne jede Be-
deutung, und die Unterhaltungen des Fürsten Bülow mit dem Begleiter
des Königs, Sir Charles Hardinge, gingen über allgemeine Bedeutunge-
losigkeiten nicht hinaus. Es war ein großer Frrtum, daß man damals und
auch noch nachher in Deutschland die Ansicht hegte, der König habe sich
durch den Verlauf der Bosnischen Krisis belehren lassen, daß seine Ein-
kreisung ein Fehlschlag sei, und wolle jetzt aufrichtig Entspannung und ein
freundschaftliches Berhältnis mit Deutschland. Der Besuch des Königs und
die äußerlich freundliche Atmosphäre führten sich vielmehr wohl auf den
Gedanken zurück, wie die Franzosen sagen: „Zurückzutreten, um besser zu
springen.“
In den leitenden Kreisen Großbritanniens wie in der dortigen Be-
völkerung war während und nach der Bosnischen Krisis von Entspannung
nichts zu merken, im Gegenteil waren Presse und Parlament mehr denn
je voll von Außerungen der Verleumdung und des Hasses gegen das
Deutsche Reich und Volk, vor allem gegen den Deutschen Kaiser. In den
schon mehrfach erwähnten Berichten belgischer Gesandter jener Zeit tut
der Gesandte zu Berlin, Baron Greindl, Ende März 1909 die wahre und
unparteiische Außerung:
„Die Verfassung der Gemüter in England erinnert an die in Frank-
reich während der Jahre 1866 bis 1870. Damals hielten sich die Franzosen
für berechtigt, Deutschland an der Wiederherstellung seiner Einheit zu hin-
dern, weil sie darin eine Bedrohung der Vorherrschaft saben, die Frank-
reich bis dahin auf dem Festlande ausgeübt hatte. Ebenso betrachtet man
beute in London die Weigerung Deutschlands, sich vertraglich dazu zu
verpflichten, von der Gnade Englands abhängig zu bleiben, als einen un-
freundlichen Akt und als eine Bedrohung des Friedens."
Man konnte und kann sich nicht treffender ausdrücken. Der Gesandte
bezog dieses Urteil auf eine Außerung Sir E. Greys über die deutsche
Flottenpolitik.
Zu Beginn des Jahres 1909 nämlich stand Großbritannien und im
weiteren Verlaufe standen auch die britischen Kolonien im Zeichen einer
„Flottenpanik“. Man entdeckte plötzlich, daß Großbritanniens Flotte in
unverantwortlicher Weise vernachlässigt worden sei, besonders aber, daß
die deutsche Marineverwaltung ihr Flottenprogramm heimlich viel weiter
gefördert habe, alo man in Deutschland öffentlich bekannt gäbe und zu-
gestände. In wenigen JZahren werde die deutsche Dreadnoughbtflotte
ebenso stark sein wie die britische und diese dann schnell überflügeln. Höchste
Gefahr sei somit im Berzuge. Die Oppositionspartei unter Führung Bal-
sours und anderer in Berbindung mit einer großen Anzahl von inaktiven
Admiralen und imperialistischen Politikern beschuldigten das Kabinett