Orientpolitik und Bosnische Krisis. 383
einer internationalen Regelung vom Gesichtspunkte des neutralen In-
teresses die großbritannische Regierung nach London einlud.
Deutschland mit seiner großen und wachsenden Schiffahrt hatte, wie
gesagt, alles Interesse an einer weitgehenden Berücksichtigung des neu-
tralen Seehandels im Seekriege und hegte die Auffassung, daß ihm eine
solche unter allen Verhältnissen nützlich sein werde. England hat da-
gegen immer der Auffassung gelebt, daß international rechtliche Satzungen
und Gebräuche nur dann annehmbar seien, wenn England als kriegführende
Macht seinen vollen Borteil dabei fände, mit dem Hintergedanken, daß eo-
als neutrale Macht seine Wünsche auch ohne und gegen internationale
Rechtesatzungen mit dem Gewichte seiner Flotte immer durchdrücken könne.
Von der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehntes des neuen Jahrhunderts-
an betrachtete man in England allgemein einen Krieg mit dem Deutschen
Reiche als sicher früher oder später bevorstehend, und so wurden die Ber-
handlungen der Londoner Konferenz von der großbritannischen Bevölke-
rung als ein vorbereitender deutsch-englischer Kampf angesehen und das
Ergebnis als Entwurf zu einer internationalen Rechtsgrundlage zuge-
schnitten auf einen deutsch-englischen Krieg. Tatsächlich war das auch der
Fall, wenn man, wie es nachher Ereignis geworden ist, annehmen wollte,
daß der kommende deutsch-englische Krieg ein Krieg DeSutschlands gegen
die große europäische Koalition sein werde. An und für sich und sachlich ließen
sich die Standpunkte auf der Londoner Konferenz richtiger als die des
Inselinteresses auf der einen, des Festlandinteresses auf der anderen Seite
bezeichnen. Die französischen und russischen Delegierten standen neben den
österreichischen und italienischen häufig genug mit den deutschen Oele-
gierten zusammen. Das sachliche Interesse führte sie auf den gleichen
Boden. In England maß man diesen Meinungsverschiedenheiten mit den
Freunden wohl im Gedanken an den großen Unterschied zwischen Papier
und Wirklichkeit keine wesentliche Bedeutung bei, sprach auch nicht von
ihnen. Dagegen konnte sich die englische Offentlichkeit nicht genug daran.
tun, die Feindseligkeit Deutschlands und die deutschen Ränke hervorzu-
heben und in den Vordergrund der Erörterung zu stellen: es sei Deutsch-
land gelungen, auf der Konferenz Großbritannien zu übertölpeln und es um
seine seit Zahrhunderten innegehabten und geübten Rechte des Seekrieges
zu betrügen. Dieser Sturm von Wut und von Vorwürfen gegen die
eigene Regierung und deren Bertreter auf der Konferenz wuchs auch in
den folgenden Jahren noch und verfolgte den praktischen Zweck, eine Rati-
fizierung der Londoner Deklaration zu verhindern. Durch eine solche
tritt bekanntlich erst die internationale Gültigkeit solcher Bereinbarungen
ein. Man bediente sich dazu des folgenden Mittels: Sollte die Londoner
Deklaration in Kraft treten und mit ihr der internationale Prisenhof, so