Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

386 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
tischen Handlungen und Unterlassungen nicht zurückgehalten worden. 
Betont zu werden verdient aber, und das wird auch die Geschichte später 
ale ein charakteristisches Merkmal der Bülowschen Amtsführung verzeichnen, 
daß der Fürst Reichskanzler von dem Wesen der englischen Politik und ihren 
Sielen eine verhältnismäßig klare und unbeirrbare Erkenntnis gehabt und 
nach Kräften betätigt hat. Die moralisch entrüstete Abneigung, die man in 
England Bülow entgegenbrachte, kann als eine schlagende Bestätigung 
hierfür angesehen werden. Es ist wahr, daß während der Bülovschen 
Amteführung sowohl die britisch-französische als auch die britisch-russische 
Vereinigung und damit der Oreiverband zustande gekommen ist. Wie 
man aber auch jene Entwicklung beurteilen mag, so ist nicht zu verkennen, 
daß wenigstens als Grundsatz Bülows die Unabhängigkeit der deutschen 
Politik nach allen Seiten in den Grenzen des praktisch Möglichen und ge- 
stützt in letzter Linie auf die eigene Kraft, durchstand. Fürst Bülow vertrat 
den Gedanken, daß die — nach seiner Auffassung bestehende — Unmöglich- 
keit, die Isolierung des Deutschen Reiches zu verhindern, keinen Grund 
bilden dürfe, um auf Grund von Konzessionen hinsichtlich der Wehrkraft 
Anschluß an andere Mächte zu suchen und damit die Unabhängigkeit der 
eigenen Politik in Frage zu stellen. Fürst Bülow erblickte im Gegenteil in 
der Stärkung der Wehrkraft zur See des Deutschen Reiches eine not- 
wendige Voraussetzung für die spätere Möglichkeit einer unabhängigen und 
dabei ausgreifenden P olitik unter selbstverständlichem Aufderhöhehalten der 
deutschen Landmacht. 
Als Staatssekretär des Auswärtigen wurde dem neuen Reichskanzler 
Herrn v. Bethmann H ollweg Herr v. Kiderlen-Waechter beigegeben. Auch 
er brachte die Voraussetzungen für einen neuen, dem wohlverstandenen 
deutschen Lebensinteresse entgegenlaufenden Kurs mit. Kiderlen-Wcechter 
teilte nicht die Ansicht von der Notwendigkeit einer starken deutschen 
Flotte, vielmehr war er der Auffassung, daß eine solche und besonders ihr 
Bau nicht friedenerhaltend, sondern friedenstörend, zum mindesten frieden- 
gefährdend wirke. Kiderlen-Waechter war in Unkenntnis über das Wesen 
der Seemacht und ebenso über Inhalt und Zweck der bestehenden deutschen 
Flottenpläne. Er mißbilligte diese aber und versuchte, ihnen nach Möglich- 
keit entgegenzuarbeiten. Er war in Anschauungen und Uberlieferungen 
aufgewachsen, welche eine Flotte für unnötig hielten. Eine „gute Anstands-- 
flotte“, insofern sie keinen englischen Umwillen erregte, wollte er gelten lassen, 
mehr nicht. Zum Ziel seiner Tätigkeit setzte er sich Annäherung an Rußland, 
Annäherung an England, möglichst schnelle Ausschaltung der deutsch-franzö- 
sischen Reibungsflächen, kräftige Förderung der deutschen Orientpolitik. 
Wie der Deutsche Reichskanzler kurz nach seinem Amtsantritt über die 
fortgesetzten englischen Bersuche, Deutschland zu einer Beschränkung seiner
	        
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