394 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
Im Mai 1910 starb König Eduard von England; — ein Ereignis von
europäischer Bedeutung. König Eduard hatte es im Laufe seiner kurzen
Regierung verstanden, die europäische und teilweise auch die außereuro-
päische Mächtegruppierung völlig zu verändern. Seiner persönlichen
Staatskunst und Fähigkeit, geschickt, zielbewußt und unmerklich zu führen,
war es gelungen, das weltgeschichtliche Ereignis der Entente Cordiale zu
verwirklichen und kurz nachher das ebenfalls politisch epochemachende
Ereignis der britisch-russischen Annäherung mit folgendem festen Einver---
ständnis. Eduard von England arbeitete ebenso ausdauernd wie erfolg-
reich bis zu seinem Tode an der weiteren Ausgestaltung und Festigung der
Ententemauer, die er um das Deutsche Reich und ÖOsterreich-Ungarn ge-
zogen hatte. Daß diese Entente, oder welche Namen dafür gebraucht wur-
den, kein hohles, kraftloses Blendwerk war, wie man in Deutschland gern
behauptete, haben die folgenden Zahre und hat hauptsächlich der große,
Krieg gezeigt. Man muß vom sozusagen technischen Standpunkte dem
Zielbewußtsein, der Sorgsamkeit und Geschicklichkeit dieser verknüpfenden
und verwebenden, dabei völlig aggressiven Staatsmannsarbeit alle An-
erkennung zollen. Ganz Europa beinahbe wurde seit 1903 fest und unmerk-
lich — jeder glaubte, daß es in seinem eigenen Vorteile liege — vor den
englischen Wagen, im besonderen vor den der Eduardischen Politik, gespannt,
immer mit dem aggressiven Ziele, das Deutsche Reich zu isolieren und ihm
bei jeder Streitfrage erfolgreich die Alternative stellen zu können: Unter-
werfung oder Krieg. Man hat zu Lebzeiten des Königs und später darüber
gestritten, ob er den „Krieg gewollt“ habe oder nicht. Gewiß hat Eduard
und haben seine Staateomänner nicht als einziges Ziel ihrer Politik und
unter allen Umständen Krieg gegen das Deutsche Reich angesehen, aber
sie waren überlegt entschlossen, keine europäische Gelegenheit zum Kriege
vorübergehen zu lassen. Im Zahre 1905/06 hat ein Krieg unter englischer
Führung mehrere Male unmittelbar vor der Tür gestanden, in der An-
gelegenheit der Deserteure von Casablanca war Großbritannien ebenfalls
entschlossen zum Kriege, falls Deutschland nicht nachgäbe, in der Bos-
nischen Krisis hetzte Großbritannien geradezu zum Kriege. Eine Lage wie
1914 kam nur deshalb nicht zustande, weil Rußland nicht bereit war und
Frankreich ebenfalls nicht wollte. Friedliebend kann man König Eduard
und seine Politik mithin nicht nennen, wenn er auch den Frieden stets im
Munde geführt hat. Die Tatsache besteht, daß trotz dieser angeblichen Frie-
densliebe gerade seit dem Regierungsantritte König Eduards Europa von
einer schweren Krisis nach der anderen heimgesucht worden ist, und daß die
Ententen Großbritanniens den bekannten dauernd gefährlich gespannten
Zustand in Europa unvermeidlich machten. Auf der anderen Seite war
Eduard VII. nüchtern genug, um sich zu sagen, daß es billiger sei, durch