Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Potedam — Agadir — Tripolis. 1909—1912. 405 
  
Schatzkanzler, Lloyd George, im Mansion-Hause eine Rede, deren Wortlaut 
vorher in einem Ministerrate festgelegt worden war; er las sie vom Papier 
ab; sie war mithin keineswegs eine Zmprovisierung. Oer wichtigste Teil 
dieser Regierungserklärung lautete: 
„Englands mächtiger Einfluß hat sich manches Mal in der Vergangen- 
heit als unschätzbar für die Sache menschlicher Freiheit erwiesen und kann 
ees auch vielleicht in Zukunft sein. Es hat mehr als einmal in der Ver- 
gangenheit kontinentale Vationen, die manchmal nur zu geneigt sind, diesen 
Dienst zu vergessen, aus erdrückendem Unglück gerettet und sogar vor na- 
tionaler Vernichtung bewahrt. Ich glaube, daß nur Fragen von ernster 
nationaler Bedeutung eine Störung der internationalen Friedfertigkeit 
rechtfertigen könnten. Wenn uns aber eine Situation aufgezwungen 
würde, in welcher der Friede nur durch das Aufgeben der großen und wohl- 
tätigen Stellung erhalten werden könnte, die England sich in Jahrhunderten 
des Heroismus und Erfolges erworben hat, und nur dadurch, daß Groß- 
britannien in Fragen, die seine Lebensinteressen berühren, in einer Weise 
behandelt würde, als ob es im Rate der Nationen gar nicht mehr mitzählte, 
dann — ich betone es — würde ein Frieden um jeden Preis eine Er- 
niedrigung sein, die ein großes Land, wie das unserige, nicht ertragen 
könnte.“ 
Diese damals europäisches Aufsehen erregende Rede wird dauernd 
ein Dokument wertvoller Art für die Beurteilung der großbritannischen 
Politik und ihrer Methoden bilden. Die britische Regierung tat so, als ob 
das Oeutsche Reich, indem es mit Frankreich über die Beseitigung einer 
Streitfrage verhandelte, welche durch fortgesetzten, britischerseits gebillig- 
ten, französischen Bertragsbruch entstanden war, großbritannische Lebens-- 
fragen gefährdete, und wie wenn Bethmann Hollweg in ähnlicher Weise 
über Großbritannien hinweggehen wolle, wie Oelcassé 1904 und 1905 
über das Deutsche Reich. Dabei wußten die britischen Staatsmänner ge- 
nau, daß das, was sie behaupteten, der Wahrheit nicht entsprach. Weder 
wollte Deutschland sich in Marokko festsetzen, um Gebiet zu gewinnen, 
noch wollte es einen atlantischen Hafen dort, noch schließlich wollte es 
Frankreich vergewaltigen. Man dachte weder an das eine noch an das 
andere, die Friedlichkeit der deutschen Absichten war unbegrenzt. In Wirklich- 
keit lag der Kern der großbritannischen Politik auf einem anderen Gebiete. 
Es handelte sich für die leitenden Londoner Staatomänner um die ent- 
schlossene und rücksichtslose Anwendung des alten und bis dahin immer er- 
folgreichen Grundsatzes: die großen Festlandsmächte in Zwist untereinander 
zu halten und gegen die stärkste Festlandsmacht die übrigen unter britischer 
Führung vereinigt zu halten, sie scheinbar zu schützen. Das sind in Wirk- 
lichkeit die „unschätzbaren Dienste“, welche nach Lloyd George England den
	        
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