Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

400 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelvunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
kontinentalen Nationen geleistet hat. In London fürchtete man, Frank- 
reich könne sich tatsächlich friedlich-schiedlich in den Marokko- und Kongo- 
fragen mit dem Deutschen Reiche einigen. Es war in London bekannt, 
daß der damals sehr einflußreiche Minister Caillaux für eine solche Einigung 
war. Oie britischen Staatsmänner besorgten, daß durch die deutsch-fran- 
zösischen Berbandlungen und ihre Ergebnisse die große, in britischen Dien- 
sten stehende, zu Deutschlands N#iederdrückung oder Vernichtung organi- 
sierte Festlandskoalition an Festigkeit verlieren und eine minder scharfe 
antideutsche Spitze erhalten werde. Kurz, der Grund für Großbritanniens 
Eingreifen damals lag nicht in Marokko, nicht in Mittelafrika, son- 
dern auf dem europäischen Festlande. Großbritannien kämpfte um 
die Erhaltung seines beherrschenden Einflusses in Festlandangelegen- 
heiten und seiner gegen Deutschland gerichteten Koalition. 
Die Wirkung der Rede Lloyd Georges auf die Stimmung in Frank- 
reich war die einer Triumphexplosion: Großbritannien rufe Frankreich zu, 
daß es fest an seiner Seite stehe und auch die äußersten Konsequenzen nicht 
scheue. Das großbritannische Bolk war der gleichen Ansicht. Die Spannung 
wuchs. Zn allen europäischen Ländern wurden Kriegsvorbereitungen ge- 
troffen. Zur Verschärfung der Stimmung wirkte mit, daß die Pariser und 
Londoner Presse täglich voll von Mitteilungen über den Inhalt der Ber- 
liner Verhandlungen war, obgleich diese nach Ubereinkunft der Regierungen 
bzw. Minister geheimgehalten und vertraulich behandelt werden sollten. 
So sah sich die Entente Cordiale in der Lage, in erfolgreichster Weise Stim- 
mung zu machen und dadurch die französische Position in den Berhand- 
lungen zu stärken, während in Deutschland die öffentliche Meinung über 
diese Mittel nicht verfügen durfte, außerdem in bedauerlicher Weise ge- 
spalten war. Beides gereichte der deutschen Sache zum Nachteile. 
Am 21. Juli, demselben Tage, als Llond George die Rede hielt, suchte 
Sir Edward Grey eine Unterredung mit dem deutschen Botschafter, Grafen 
Wolff-Metternich, und brachte die bewußt unwahre Auffassung zur Gel- 
tung, der Zeitpunkt sei gekommen, wo Großbritannien in die Verhand- 
lungen eingreifen müsse, denn augenscheinlich wolle Deutschland Hafen 
und Hinterland von Agadir für sich haben. Der Botschafter bestritt dieses 
natürlich: es sei deutscherseits nie eine solche Absicht vorhanden gewesen, 
und die Entsendung eines Kriegsschiffes zum Schutze der deutschen Reichs- 
angehörigen sei kein Eingriff in britische Interessen. Es sei bedauerlich, 
daß der Minister trotz der wiederholten deutschen Versicherung des Gegen- 
teils fremden Einflüsterungen Glauben schenke. Der Botschafter über- 
mittelte den Inhalt der Unterhaltung sofort nach Berlin; schnell kam die 
Antwort von dort zurück, aber da hatte Llopd George schon seine Rede ge- 
halten. Wenn Sir Edward Grey diese Antwort aus Berlin, wie er wollte,
	        
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