Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

414 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
riß in einem vom Zaune gebrochenen Angriffskriege ohne jeden vertret- 
baren Grund dem Deutschland eng befreundeten Türkischen Reiche ein 
Stück seines Gebietes, versuchte es jedenfalls. Kurz vorher waren Oeutsch- 
land und ÖOsterreich-Ungarn mit Rußland, letzteres zwar unaufrichtiger- 
weise, feierlich über Erhaltung des Status quo des Gebietsstandes der 
Türkei miteinander einig geworden. Oie Presse der Tripelentente setzte 
denn auch den Türken auseinander, daß sie an dem Deutschen Reiche keinen 
sehr nützlichen Freund hätten, und ebensowenig sei es mit dem gesamten 
Zslam der Fall: unter Deutschlands Auspizien seien dem Türkischen Reiche 
Bosnien und die Herzegowina verloren gegangen, jetzt gehe ihm Tripolis 
verloren, und das mohammedanische Marokko sei von Kaiser Wilbelm, dem 
angeblichen Freunde aller Mohammedaner, auf dem Wege des Tausches 
vertragswidrig an Frankreich überlassen worden. 
Es konnte nicht feblen, daß die türkisch-deutsche Freundschaft einer er- 
heblichen Belastungsprobe damit unterzogen wurde. ODeutschland und 
Osterreich-Ungarn bielten es aber politisch nicht für zweckmäßig, Einspruch 
in Rom zu erheben, obgleich vor Zahr und Tag der italienische Minister San 
Giuliano selbst sich öffentlich auf den Status quo der Türkei festgelegt hatte. 
Die öffentliche Meinung in Deutschland und Osterreich-Ungarn mißbilligte 
mit Entrüstung das italienische Borgebhen, und vielfach wurden Stimmen 
laut: es sei an der Zeit, dem unzuverlässigen Bundesgenossen IZtalien den 
„ODreibundstuhl“ vor die Tür zu setzen und dafür das Türkische Reich in 
den Dreibund aufzunehmen. Auch der damalige deutsche Botschafter zu 
Konstantinopel, Freiherr v. Marschall, hat diese Ansicht vertreten. Die 
deutsche Reichsregierung war dagegen, und man wird auch heute noch 
diesen Entschluß als richtig anerkennen müssen, trotz des italienischen Ver- 
rates im Jahre 1915. Es wäre unrichtig gewesen, Ztalien direkt in das 
Lager der Gegner zu drängen und so selbst von vornherein zu unserem 
Gegner zu machen. Ein weiterer Grund mag für die deutsche Regierung in 
der Erwägung gelegen haben, daß man durch einen solchen Schritt gleich- 
zeitig, ja eo ipso, für die Türkei Partei nehmen müßte und unter sotanen 
Umständen den Weltkrieg vielleicht berbeiführen würde. Wie wiederholt 
dargelegt worden ist, lag aber nichts weniger in den deutschen Bestrebungen 
alö dieses. So mußte denn das deutsche Bestreben sein, beides zu ver- 
einigen: mit dem Bundesgenossen in den vertraglichen Beziehungen zu 
bleiben und mit dem Freunde in der alten möglichst vertrauensvollen Freund- 
schaft. Das Deutsche Reich übernahm mit Ausbruch des Krieges den Schutz 
der Italiener in der Türkei und der Türken in Italien. Damit war seine 
Rolle sombolisch überhaupt gekennzeichnet. Anderseits erhoben auf Grund 
früherer Dreibundabmachungen und der Bereinbarungen über die Haltung 
der Türkei Deutschland und Osterreich- Ungarn Einspruch, als Stalien den
	        
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