Potsdam — Agadir — Tripolls. 1909—1912. 415
Krieg nach der Europäischen Türkei, also auf die Balkanhalbinsel, tragen
wollte. Die Gefahr lag vor, daß dann die Balkanstaaten, vielleicht auch Ruß-
land sich auf die Türkei stürzen und sie in Europa vernichten würden. Oie
Berechtigung dieses Einspruches wurde von der italienischen Regierung aus-
drücklich und ohne Vorbehalt anerkannt. Der Minister San Giuliano er-
kannte auedrücklich an, daß ein Ubergreifen des Krieges auf die Balkan-
halbinsel unter allen Umständen vermieden werden müsse. Gegen die
italienische Absicht einer Blockade der Dardanellen nahmen alle beteiligten
Mächte Stellung, während es Italien im Berlaufe des Krieges gestattet
wurde, zwölf der Türkei gehörige ägäische Inseln zeitweilig zu besetzen.
Diese IZnseln hat man später unter dem Namen des Oodekanesos zu-
sammengefaßt. Der Ztalienisch-Türkische Krieg fand, wie vorgreifend
bemerkt sei, im Oktober 1912 durch den Frieden von Lausanne seinen
Abschluß: Italien behielt Tripolis und den Anspruch auf das noch nicht
eroberte Gebiet und verpflichtete sich, der Türkei gewisse Zahlungen zu
machen. Neben anderen Abmachungen wurde auch beschlossen, daß Italien
die ägäischen Inseln zu räumen habe, sobald die Räumung Cripolitaniens
türkischerseits von Offizieren und Truppen erfolgt sei.
Die Mächte der Tripelentente waren mit dem tripolitanischen Kriege
im GErunde sehr einverstanden, ja, sie hatten ihn durch die alten Berein-
barungen mit Italien von langer Hand vorbereitet. Zede Schwächung
der Türkei war ihnen willkommen. Sie erbofften eine Lockerung und Stö-
rung der türkisch-deutschen Freundschaft und ganz besonders eine erhebliche
Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Italien und dem Oreibunde.
Was diesen letzten Punkt anlangt, so schien zunächst die Rechnung Groß-
britanniens, Frankreichs und Rußlands nicht zu stimmen. Oer deutsche
Staatssekretär v. Kiderlen-Waechter war Anfang 1912 in Rom, um die
eigentlich erst 1914 fällige Erneuerung des Oreibundes zu betreiben,
welche dann vorzeitig Anfang Dezember 1912 tatsächlich erfolgte. Die
Besprechungen drehten sich nicht zum wenigsten um das Verdältnis
Libyens — wie die italienischen Zmperialisten Tripolitanien nennen — im
Rahmen der Dreibundverträge und, jedenfalls wie immer, um die Berhält-
nisse auf der Balkanhalbinsel, insbesondere die türkischen Fragen und die der
italienisch-österreichisch-ungarischen Beziehungen. Es ist heute noch nicht
durchsichtig, welches die eigentlichen Absichten des damaligen Spieles der
ltalienischen Diplomatie gewesen sind. Sie war immer gewohnt mit einer
größeren Anzahl von Eisen im Feuer zu arbeiten und nie wirklich Farbe
zu bekennen. Tatsache ist, daß Giolitti, San Giuliano und dem Könige
damals an einer schnellen außerterminlichen Erneuerung des Dreibundes
besonders viel lag. Der tripolitanische Krieg hatte unerwartet viel Geld
gekostet, und deshalb, wie möglicherweise auch aus anderen Gründen, hatte