Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

416 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
Italien seinen wohl früher vorhandenen Plan, auch in den im Herbste 1912 
beginnenden Balkankrieg einzugreifen, nicht durchgeführt. Oazu kam, daß 
Anfang 1912 nicht unerhebliche Mißbelligkeiten zwischen Ztalien und Frank- 
reich Platz griffen. Schon war eine gewisse Erbitterung in Ztalien ent- 
standen, als während der ersten Hälfte des Tripoliökrieges Großbritannien 
sich den Hafen von Sollum, der eigentlich zu Tripolitanien gehörte, nahm 
und erklärte, es sei ein ägpptischer Hafen. Frankreich seinerseits hatte eben- 
falls zugegriffen und zwei der besten tripolitanischen Oasen genommen. 
Oer tripolitanische Feldzug Italiens war überhaupt den Franzosen in 
mehrfacher Hinsicht nicht erfreulich. Man hatte nicht geglaubt, daß das 
italienische Unternehmen auf die tripolitanische Küste erfolgreich durch- 
geführt werden würde. Dazu kam die Besorgnis wegen der Einwirkung der 
italienischen Besetzung auf die Stimmung in Tunis, dessen Bevölkerung zum 
größten Teile italienisch ist. Schließlich kam es zu mehreren Zwischen- 
fällen. Italienische Kriegsschiffe beschlagnahmten französische Dampfer, 
welche auf der Fahrt von Marseille nach Tunis Aeroplane und türkische 
Offiziere usw. zu bringen versuchten, die dann über die tunesische Grenze 
nach Tripolis geschafft werden sollten, um die Gegner der Btaliener zu 
verstärken. In Frankreich, wo man gewohnt war, Z talien als dienstwilligen 
Helfer anzusehen, der sich damit zu begnügen hätte, Freund Frankreichs ge- 
nannt zu werden, erregten die Beschlagnahmen beftigen Unwillen. Die 
französische Presse raste gegen Italien, und der damalige Ministerpräsident 
Poincaré hielt drohende Reden. Um jene Zeit erfolgte die Berlegung der 
gesamten französischen Flotte in das Mittelländische Meer, und zwar unter 
ausdrücklicher Betonung der amtlichen Personen und Organe, daß die 
neue Wendung der italienischen Politik und die italienische Haltung der 
letzten Zeit den Grund bilde. Bei der Beratung des Marinebudgets in 
der französischen Kammer erklärte der Berichterstatter: Frankreichs Flotte 
müsse stets stark genug sein, um die italienische innerhalb 40 Minuten zu- 
sammenzuschießen. Derartige und ähnliche Außerungen waren damals an 
der Tagesordnung. Bald allerdings glätteten sich die Wogen wieder, und 
die Sprache Frankreichs wurde milde und freundschaftlich wie gewöhnlich, 
während in ZItalien sich die durch französische Mittel aller Art geförderten 
Sompathien für Frankreich und unbegrenzter Respekt vor England bald 
wieder durchsetzten, zumal diese beiden Mächte Italien für seinen Frieden 
mit der Türkei kein Hindernis entgegenstellten, vielleicht ihm auch schon Ver- 
sprechungen baldiger Balkanbeute gegeben haben. 
Trotz alledem kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Poli- 
tik San Giulianos und Giolittis seit dem tripolitanischen Kriege ein anderes 
Gepräge aufwies als das der italienischen Politik vorher war. Wenn die 
italienische Presse damals vielfach betonte, Italien sei durch seinen neuen
	        
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