Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Potsdam — Agadir — Tripolis. 1909—1912. 419 
  
Solche Uberlegungen waren keine Phantasien, sondern bildeten das durch- 
dachte Programm der deutschen Regierung. Sie rechnete weiter, daß zu- 
gleich mit der Schaffung einer selbstvertrauenden Dreibundsolidarität im 
Mittelländischen Meere auch Festlandshilfe Ftaliens in einem europäischen 
Kriege eintreten werde. Anscheinend haben in dieser Richtung auch mili- 
tärische Unterhandlungen zwischen den Mächten stattgefunden. Es lag auf 
der Hand, daß die Leiter der deutschen Politik zunächst den tripolitanischen 
UÜberfall, der auch einen Uberfall auf den Dreibund bedeutete, sehr undan- 
genehm und mit schwerer Besorgnis im Hinblick auf die Türkei und die 
Balkanhalbinsel empfanden. Anderseits war nicht nur richtig, sondern bildete 
eine anerkennenswerte Leistung der deutschen Politik, daß sie die ihr auf- 
gezwungene schwierige Lage in einer Weise zugunsten des Dreibundes 
ausnützte, wie es weder dessen Feinde noch Freunde vorausgesehen hatten. 
Daß der Erfolg nicht von Dauer war, hat sich, wie vorgreifend bemerkt 
sei, ebensowohl auf persönliche Meinungsverschiedenheiten in Italien, 
wie auf die weit größere Geschicklichkeit der dauernd mit enormen Mitteln 
betriebenen antideutschen Propaganda in der italienischen Bevölkerung 
zurückgeführt. Hauptsächlich aber war Italien seit zwölf Jahren immer 
tiefer in das politische und diplomatische Getriebe der großen deutschfeind- 
lichen Entente verstrickt worden. Auch die sogenannten deutschfreund- 
lichen italienischen Staatsmänner, wie San Giuliano und andere, be- 
saßen, wenn vielleicht etwas Willen, doch nicht die Kraft, eine klare und 
ehrliche Politik mit festem Ziele zu treiben. Man trieb doppelzüngige 
Politik nach allen Seiten, legte sich hierhin und dahin fest, stets mit dem 
Gedanken, keine Verpflichtung zu halten, falls es einmal vorteilhafter 
schiene, ihr untreu zu werden. Sobald Balkanfragen am Horizonte er- 
schienen, dann besiegten die alten Aspirationen Italiens hinsichtlich der 
Adria, Albaniens und neuerdings der zwölf besetzten ägäischen Inseln und 
über allem anderen der Frredentismus, der tiefe Haß gegen Österreich- 
Ungarn, alle anderen Rücksichten: Ztalien stand im Zeichen der Tripel-- 
entente, der Bereinbarungen von Reval und Nacconigi und wohl noch 
mancher anderen verschwiegenen Abmachungen. 
Die Sendung Lord Haldanes, ihre Begleitumstände und Folgen. 
Die Marokkokrisen des Jahres 1911 hatten in Europa einen tiefen 
Eindruck gemacht. Ze mehr über die Vorgänge und Stimmungen jenes 
Sommers und Herbstes bekannt wurde, desto klarer sahen die großen und 
die kleinen Mächte, daß man sich unmittelbar am Nande des europäischen 
Krieges befunden hatte. Die Folgen dieses Eindruckes und dieser Erkennt- 
277
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.