Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die Sendung Lord Haldanes, ihre Begleitumstände und Folgen. 421 
waren untrügliche Symptome, wie dicht man 1911 am Kriege vorbei ge- 
kommen war. 
DHie aufrichtige Entrüstung mancher Engländer des linken liberalen 
Flügels fand bei einigen Persönlichkeiten des Kabinettes, nämlich den in 
die Geheimpolitik vorher nicht eingeweihten, einen gewissen Widerhall. 
Wie meist nach hohen politischen Spannungen, trat in der Stimmung ein 
gewisser kurzzeitiger Rückschlag ein. Die Leiter der großbritannischen Politik 
vermochten diesen um so ruhiger mit anzusehen und sich selbst zu gestatten, 
weil Großbritannien mit seinen Freunden und Genossen als Sieger aus 
der Marokkokrisis hervorgegangen war. So konnten ohne Schaden und 
Risiko „freundlichere Saiten“ aufgezogen werden. Und damit faßten auch 
die auf englisch-deutsche Berständigung gerichteten Personen und Vereine 
neue Zuversicht, und es wurde mehr denn je zuvor geredet. Man begriff 
noch immer nicht, und zwar ebensowenig in Deutschland, daß es sich 1911 
nicht um eine gewissermaßen zufällig auftretende Spannung und Streit- 
frage mit Krisis und nachfolgender Entspannung gehandelt hatte, sondern 
um die Symptome einer sostematischen, folgerichtig auf schließliche Ex- 
plosion hindrängenden Entwicklung des großen britischen Koalitionoplanes. 
Seine Einzelbeiten freilich sind zum großen Teile erst später bekannt ge- 
worden. 
In einem früheren Kapitel wurden die Anfänge der britisch-französisch- 
belgischen Militärkonvention von 1906 erwähnt. Seitdem hatte man auf 
dieser Grundlage fleißig fortgebaut, und die beiden Gencralstäbe erörterten 
laufend planmäßig alle Möglichkeiten und Seiten der Frage miteinander. 
Britische Generalstabsoffiziere hatten unter den Auspizien des Militär- 
attachés in Brüssel das belgische Gebiet eingehend studiert und stellten im 
Laufe der Jahre ein mehrere Bände umfassendes topographisches Kriegs- 
handbuch fertig. R#cht nur die Landungsgelegenheiten, sondern die Krieg- 
führung in Belgien überhaupt wurde in diesem Werke eingehend erörtert, 
welches ausschließlich zur praktischen Anleitung der Kriegführenden auf 
belgischem Boden dienen sollte. Unter den Brüsseler Dokumenten, die im 
Kriege von der deutschen Regierung beschlagnahmt wurden, fand sich vom 
Frühjahr 1912 eine Aiederschrift des Direktors im belgischen Ministerium 
des Auswärtigen über eine Unterhaltung des englischen Militärattachés mit 
dem belgischen Generalstabochef. Der erstere erklärte im Laufe einer Be- 
sprechung über Landungen im Falle eines Krieges: England würde auch 
gegen den Willen Belgiens 1911 dort seine Truppen gelandet haben. Im 
gleichen JZahre 1911 ging von Brüssel, London und Paris eine starke öffent- 
liche und geheime Einwirkung dahin aus, daß die Scheldemündung, welche 
bekanntlich den Niederlanden gehört, im Widerspruch zu den bestehenden 
Verträgen geöffnet werde. In Berbindung mit den erst nach Beginn des
	        
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