Die Sendung Lord Haldanes, ihre Begleitumstände und Folgen. 427
Deutschland in die Flanke fallen sollte. So kam er 1912 wiederum als be-
kannter und bewährter Freund Deutschlands nach Berlin, beanspruchte
Vertrauen und fand es. Wie der Reichskanzler erzählte, war Haldane
„durch die bevorstehende Flottennovelle bedrückt. Ich fragte den englischen
Minister, ob ihm nicht eine offene Verständigung mit uns, eine Verstän-
digung, die nicht nur einen deutsch-englischen Krieg, sondern überhaupt
jeden Weltkrieg ausschließen würde, mehr wert sei als ein paar deutsche
Dreadnoughts mehr oder weniger. Lord Haldane schien für seine Person
dieser Ansicht zuzuneigen. Er fragte mich daher, ob wir, wenn wir den
Rücken gegen England frei hätten, dann nicht sofort über Frankreich her-
fallen und es vernichten würden. Ich habe ihm erwidert, daß die Friedens-
politik, die Deutschland in einer Zeit von mehr als vierzig Jahren geführt
hätte, uns eigentlich vor einer solchen Frage sichern sollte. Wir hätten ja
die schönsten Gelegenheiten gehabt, im Burenkrieg, im Russisch-Japanischen
Krieg unsere etwaige Kriegswut zu zeigen, aber da und in allen Phasen
der Marokkopolitik hätten wir das Gegenteil getan, hätten wir unsere
Friedensliebe vor aller Welt bekundet. Deutschland, sagte ich ihm, wünsche
aufrichtig den Frieden mit Frankreich und werde ebensowenig über Frank-
reich wie über irgendeine andere Macht herfallen. Nachdem Lord Haldane
von Berlin abgereist war, wurden die Berhandlungen in London fortge-
setzt.“ Lord Haldane zeigte sich also durch die bevorstehende Flottennovelle
bedrückt. Uber die Geschichte dieses Teiles der Berhandlungen ist man noch
auf Kombinationen angewiesen, außerdem auf Mitteilungen aus der
großbritannischen Presse, deren Richtigkeit deutscherseits niemals in Abrede
gestellt worden ist. Alles in allem haben die Dinge ungefähr folgendermaßen
gelegen: Die deutsche Marineverwaltung hielt eine erhebliche möglichst
schnelle Verstärkung unserer Wehrkraft zur See zumal auch infolge der
Lehren der Marokkokrisis von 1911 für erforderlich, außerdem eine organi-
satorische Erhöhung der ständig schlagbereiten Linienschiffsgeschwader und
anderer Verbände der aktiven Flotte. Dazu kam, daß angesichts des be-
stehenden Bauplanes das jährliche Bautempo an großen Panzerschiffen
vom ZJahre 1912 an nur noch zwei große Schiffe betragen sollte, anstatt vier
und drei, wie bisher. Eine solche Verlangsamung erschien angesichts der
europäischen Verhältnisse doppelt bedenklich. Man darf aus diesen Grün-
den annehmen, daß die Marineverwaltung eine Flottenvorlage von min-
destens sechs großen Panzerschiffen vorbereitet gehabt hat, vielleicht noch
vermehrt um eine Anzahl großer gepanzerter Kreuzer. Die Zahl sechs
ergab sich daraus, daß für jedes der Zabre von 1912 bis 1917 damit ein
großes Panzerschiff hinzugekommen und eine Verlangsamung des bigs-
herigen Bautempos so vermieden worden wäre. In Großbritannien hatte
man um die Jahreswende 1911/12, wie immer, um diese Pläne und Vor-