Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Die Sendung Lord Haldanes, ihre Begleitumstände und Folgen. 427 
  
Deutschland in die Flanke fallen sollte. So kam er 1912 wiederum als be- 
kannter und bewährter Freund Deutschlands nach Berlin, beanspruchte 
Vertrauen und fand es. Wie der Reichskanzler erzählte, war Haldane 
„durch die bevorstehende Flottennovelle bedrückt. Ich fragte den englischen 
Minister, ob ihm nicht eine offene Verständigung mit uns, eine Verstän- 
digung, die nicht nur einen deutsch-englischen Krieg, sondern überhaupt 
jeden Weltkrieg ausschließen würde, mehr wert sei als ein paar deutsche 
Dreadnoughts mehr oder weniger. Lord Haldane schien für seine Person 
dieser Ansicht zuzuneigen. Er fragte mich daher, ob wir, wenn wir den 
Rücken gegen England frei hätten, dann nicht sofort über Frankreich her- 
fallen und es vernichten würden. Ich habe ihm erwidert, daß die Friedens- 
politik, die Deutschland in einer Zeit von mehr als vierzig Jahren geführt 
hätte, uns eigentlich vor einer solchen Frage sichern sollte. Wir hätten ja 
die schönsten Gelegenheiten gehabt, im Burenkrieg, im Russisch-Japanischen 
Krieg unsere etwaige Kriegswut zu zeigen, aber da und in allen Phasen 
der Marokkopolitik hätten wir das Gegenteil getan, hätten wir unsere 
Friedensliebe vor aller Welt bekundet. Deutschland, sagte ich ihm, wünsche 
aufrichtig den Frieden mit Frankreich und werde ebensowenig über Frank- 
reich wie über irgendeine andere Macht herfallen. Nachdem Lord Haldane 
von Berlin abgereist war, wurden die Berhandlungen in London fortge- 
setzt.“ Lord Haldane zeigte sich also durch die bevorstehende Flottennovelle 
bedrückt. Uber die Geschichte dieses Teiles der Berhandlungen ist man noch 
auf Kombinationen angewiesen, außerdem auf Mitteilungen aus der 
großbritannischen Presse, deren Richtigkeit deutscherseits niemals in Abrede 
gestellt worden ist. Alles in allem haben die Dinge ungefähr folgendermaßen 
gelegen: Die deutsche Marineverwaltung hielt eine erhebliche möglichst 
schnelle Verstärkung unserer Wehrkraft zur See zumal auch infolge der 
Lehren der Marokkokrisis von 1911 für erforderlich, außerdem eine organi- 
satorische Erhöhung der ständig schlagbereiten Linienschiffsgeschwader und 
anderer Verbände der aktiven Flotte. Dazu kam, daß angesichts des be- 
stehenden Bauplanes das jährliche Bautempo an großen Panzerschiffen 
vom ZJahre 1912 an nur noch zwei große Schiffe betragen sollte, anstatt vier 
und drei, wie bisher. Eine solche Verlangsamung erschien angesichts der 
europäischen Verhältnisse doppelt bedenklich. Man darf aus diesen Grün- 
den annehmen, daß die Marineverwaltung eine Flottenvorlage von min- 
destens sechs großen Panzerschiffen vorbereitet gehabt hat, vielleicht noch 
vermehrt um eine Anzahl großer gepanzerter Kreuzer. Die Zahl sechs 
ergab sich daraus, daß für jedes der Zabre von 1912 bis 1917 damit ein 
großes Panzerschiff hinzugekommen und eine Verlangsamung des bigs- 
herigen Bautempos so vermieden worden wäre. In Großbritannien hatte 
man um die Jahreswende 1911/12, wie immer, um diese Pläne und Vor-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.