Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

438 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
unehrlich gemeint war. Des weiteren schlug Churchill in steigender Wieder-- 
holung vor: die Seemächte, in erster Linie Deutschland und Großbritannien, 
sollten, um die Last der Rüstungen zu vermindern, ein sogenanntes Flotten- 
feierjahr einlegen, d. h. ein JZahr lang keine Neubauten in Angriff nehmen. 
Dann würde das Stärkeverhältnis der Flotten untereinander das gleiche 
bleiben und gleichwohl eine merkliche internationale Erleichterung ein- 
treten. Auch dieser Vorschlag war unehrlich gemeint. Er bezweckte zweier- 
lei: Zm Falle seiner Ablehnung Deutschland als den Friedensstörer und 
„Wettrüster" erscheinen zu lassen, bei seiner Annahme Deutschland in Nach- 
teil zu bringen, denn bei der Berschiedenheit der Verhältnisse würde ein 
solches Feierjahr Großbritannien einen bedeutend weiteren Vorsprung 
gebracht haben. Im Frühjahr 1915 äußerte sich der Deutsche Reichskanzler 
zu diesen Fragen folgendermaßen: 
„Mr. Churchill hat in der großen Rede, die er neulich gehalten hat, das 
Stärkeverhältnis zwischen der englischen und der deutschen Flotte be- 
leuchtet und hat dabei einen Gedanken wiederholt, den er bereits im vorigen 
Zahr, und zwar gleichfallö im Parlament, ausgesprochen hatte, den Ge- 
danken, daß zur Berminderung der Rüstungskosten die Schiffswerften 
der großen Mächte von Zeit zu Zeit ein JZahr Feiertag machen möchten. 
Nrr. Churchill hat diesen Vorschlag speziell an Deutschland, und zwar 
für 1914 und 1915, gerichtet, aber er hat anerkannt, daß alle Großmächte 
an dieser Kontingentierung beteiligt werden müßten. Die Marinesachver-- 
ständigen diesseits und jenseits der Nordsee haben, wie mir scheint, ziemlich 
übereinstimmend auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die in der Aus- 
fübrung dieses Problems liegen würden. Mr. Churchill selbst hat diese 
Schwierigkeiten zugegeben. Auch mir ist nicht bekanntgeworden, daß sein Ge- 
danke im englischen Parlament oder in der englischen öffentlichen Meinung 
besonderen Anklang gefunden hätte. Wir werden also abwarten können, 
ob die englische Regierung mit konkreten Borschlägen hervortreten sollte. 
Aber, meine Herren, die Tatsache, daß dieser Gedanke ausgesprochen 
worden ist, und die Form, in die ihn der Erste Lord der englischen Admirali- 
tät gekleidet hat, bedeuten doch einen großen Fortschritt. 
Es gab eine Zeit, wo jedes Wort, das einem Vergleich der englischen 
und der deutschen Seestärke, einem Vergleich des englischen und deutschen 
Schiffbaus galt, zu einem Navyy scare, zu einer Flottenhetze, führte, die 
immer wieder die deutsch-englischen Beziehungen vergiftete. Mir scheint 
— und ich hoffe es —, daß diese Zeiten der Vergangenheit angehören. Mir 
scheint, daß das Vertrauen wieder zurückzukehren beginnt, dae lange Zeit 
dum Schaden beider Länder und der Welt gefehlt hat.“ 
Wenige Monate vorher hatten Sir E. Grey und im Vamen der 
französischen Regierung der Londoner Botschafter, Paul Cambon, Briefe 
 
	        
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