444 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
bulgarischen, hauptsächlich für die serbischen Zukunftspläne einen vernich-
tenden Schlag bedeuten, wenn Albanien etwa eine gewisse Selbständig-
keit erhielte und gleichzeitig Mazedonien dem albanischen Einflusse verfiele.
Außerdem war bulgarischer- wie serbischerseits auch viel wirkliche Volks-
erbitterung wegen der Leiden der beiderseitigen Volksgenossen in Maze-
donien vorhanden. Das ließ sich nicht leugnen.
In St. Petersburg nahm man die gegenseitige Annäherungsneigung
der beiden einander früher so feindlichen Balkanmächte mit Berständnis
und Genugtuung auf. Der vielgenannte russische Gesandte zu Belgrad,
Herr v. Hartwig, begriff, was sich alles im Sinne des großen russischen
Expansionszieles aus einer bulgarisch-serbischen Berbindung machen lassen
könne, und förderte die Bestrebungen mit ebensoviel Regsamkeit wie Ge-
schick. Hartwig, der Sohn eines deutschen Arztes, vertrat durch seine tief
eingreifende Tätigkeit die sog. allslawische oder neuflawische Nichtung.
Sie stimmte überein mit derjenigen der Petersburger Hofpartei, welche
von der Zarin-Mutter und dem späteren russischen Generalissimus, dem
Großfürsten Ni#kolai NRikolajewitsch, geleitet wurde. Die offizielle Politik
der russischen Regierung bzw. Herrn Ssasonows war es nicht. Oiese konnte
man positiv nicht charakterisieren. Sie gab keine Richtung an, sondern
versuchte, die Hofpartei und die Allslawen zu bremsen, bisweilen ihnen
auszuweichen, große Entscheidungen zu vertagen, die europäischen
Beziehungen Rußlands nach beiden Seiten zu fördern oder zu erhalten.
Sooft es aber den rührigen Führern und Bertretern der Hofpartei und
der Allslawen gelungen war, eine neue Lage zu schaffen oder aktiv vor-
zubereiten, mußte auch das amtliche Rußland früher oder später in diese
Bahn einlenken. Es war beinahe immer ein wesentliches Merkmal der
russischen Politik, daß Botschafter und Gesandten des Zarenreiches in
Europa jedenfalls an allen wichtigen Posten energische, selbständige und
entschlossen deutschfeindliche Persönlichkeiten waren. Ausgenommen war
davon allein der Berliner Botschafterposten. Ihn vertrat ein unfähiger
weltmännischer Greis, Graf v. Osten-Sacken, und danach Herr Swerbesjew,
ein Mann ohne Bedeutung. Im übrigen aber waren die russischen Bot-
schafter Leute, die zielbewußt ihren Weg gingen und sich um Weisungen
Herrn Ssasonows wenig kümmerten. Aur Tscharykow war gefallen, weil
er zu weit gegangen war und den Bestand des Oreiverbandes in Frage
gestellt hatte, außerdem Konkurrent Ssasonows war.
Dem Gesandten v. Hartwig war es ebenso wie der Petersburger
Regierung sehr gleichgültig, ob Christen in Mazedonien gemißbhandelt
wurden. Von größter Bedeutung aber mußte ihnen eine bulgarisch-
serbische VBerbindung im Zeichen des Allslawismus erscheinen. Es war klar,
daß sich Montenegro einem solchen Bunde ohne weiteres anschlösse. Damit