Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

444 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
bulgarischen, hauptsächlich für die serbischen Zukunftspläne einen vernich- 
tenden Schlag bedeuten, wenn Albanien etwa eine gewisse Selbständig- 
keit erhielte und gleichzeitig Mazedonien dem albanischen Einflusse verfiele. 
Außerdem war bulgarischer- wie serbischerseits auch viel wirkliche Volks- 
erbitterung wegen der Leiden der beiderseitigen Volksgenossen in Maze- 
donien vorhanden. Das ließ sich nicht leugnen. 
In St. Petersburg nahm man die gegenseitige Annäherungsneigung 
der beiden einander früher so feindlichen Balkanmächte mit Berständnis 
und Genugtuung auf. Der vielgenannte russische Gesandte zu Belgrad, 
Herr v. Hartwig, begriff, was sich alles im Sinne des großen russischen 
Expansionszieles aus einer bulgarisch-serbischen Berbindung machen lassen 
könne, und förderte die Bestrebungen mit ebensoviel Regsamkeit wie Ge- 
schick. Hartwig, der Sohn eines deutschen Arztes, vertrat durch seine tief 
eingreifende Tätigkeit die sog. allslawische oder neuflawische Nichtung. 
Sie stimmte überein mit derjenigen der Petersburger Hofpartei, welche 
von der Zarin-Mutter und dem späteren russischen Generalissimus, dem 
Großfürsten Ni#kolai NRikolajewitsch, geleitet wurde. Die offizielle Politik 
der russischen Regierung bzw. Herrn Ssasonows war es nicht. Oiese konnte 
man positiv nicht charakterisieren. Sie gab keine Richtung an, sondern 
versuchte, die Hofpartei und die Allslawen zu bremsen, bisweilen ihnen 
auszuweichen, große Entscheidungen zu vertagen, die europäischen 
Beziehungen Rußlands nach beiden Seiten zu fördern oder zu erhalten. 
Sooft es aber den rührigen Führern und Bertretern der Hofpartei und 
der Allslawen gelungen war, eine neue Lage zu schaffen oder aktiv vor- 
zubereiten, mußte auch das amtliche Rußland früher oder später in diese 
Bahn einlenken. Es war beinahe immer ein wesentliches Merkmal der 
russischen Politik, daß Botschafter und Gesandten des Zarenreiches in 
Europa jedenfalls an allen wichtigen Posten energische, selbständige und 
entschlossen deutschfeindliche Persönlichkeiten waren. Ausgenommen war 
davon allein der Berliner Botschafterposten. Ihn vertrat ein unfähiger 
weltmännischer Greis, Graf v. Osten-Sacken, und danach Herr Swerbesjew, 
ein Mann ohne Bedeutung. Im übrigen aber waren die russischen Bot- 
schafter Leute, die zielbewußt ihren Weg gingen und sich um Weisungen 
Herrn Ssasonows wenig kümmerten. Aur Tscharykow war gefallen, weil 
er zu weit gegangen war und den Bestand des Oreiverbandes in Frage 
gestellt hatte, außerdem Konkurrent Ssasonows war. 
Dem Gesandten v. Hartwig war es ebenso wie der Petersburger 
Regierung sehr gleichgültig, ob Christen in Mazedonien gemißbhandelt 
wurden. Von größter Bedeutung aber mußte ihnen eine bulgarisch- 
serbische VBerbindung im Zeichen des Allslawismus erscheinen. Es war klar, 
daß sich Montenegro einem solchen Bunde ohne weiteres anschlösse. Damit
	        
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