Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Der letzte Akt. 45 
  
würde Rußland eine Barre quer über die Balkanhalbinsel errichtet haben, 
welche ÖOsterreich-Ungarn vom Südbalkan abschnitt und gleichzeitig das 
Deutsche Reich von der Türkei. Es liegt auf der Hand, daß Großbritannien 
einen solchen Zustand gleichfalle mit der größten Genugtuung begrüßen 
und seine Herbeiführung unterstützen mußte. Das Revaler Programm 
von 1908 konnte, wennschon auf etwas andere Weise, als damals gedacht 
war, nicht zweckmäßiger zur Verwirklichung gelangen. Rußland hatte seit 
1909 die serbische Wut und Geringschätzung gegen Österreich-Ungarn 
ständig geschürt und für später russischen Beistand versprochen. Die Be- 
ziehungen zwischen Osterreich-Ungarn und Serbien waren weder politisch 
noch wirtschaftlich besser geworden, und die großserbische Propaganda 
arbeitete auf der Grundlage einer weitverzweigten Organisation mit Wort 
und Schrift, mit Dolch und Bombe in Bosnien wie in Kroatien und 
Ungarn. Während und nach der Bosnischen Krisis waren, wie wir gesehen 
haben, die Beziehungen zwischen Bulgarien und ÖOsterreich-Ungarn gute 
und zeitweise intime. Bulgariens Stellung auf dem Balkan war stark 
gewachsen und damit auch sein Unabhängigkeitsgefühl. Für die Ziele der 
russischen Politik aber war es eine entscheidende und unschätzbare Vor- 
bedingung, daß nunmehr Serbien und Burlgarien sich einander näherten. 
Oiese Annäherung beruhte — und das bildet den Angelpunkt des damaligen 
Umschwunges — auf dem gemeinsamen Wunsche der beiden Mächte, ihr 
Gebiet auf Kosten der Europäischen Türkei zu erweitern. Rußland wie 
Großbritannien konnten mit diesem Ziele nicht nur einverstanden sein, 
sondern mußten es fördern, wie sie nur konnten: erstens, weil sie die 
Türkei schwächen und vernichten wollten, besser gesagt: vernichten lassen 
wollten, und zwar am liebsten durch Balkanstaaten, zweitens, weil damit 
die Ziele und Interessen des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns 
gefährdet oder zerstört wurden, und drittens, weil durch die Verbindung 
Bulgariens mit Serbien eine mächtige neue Koalition entstand, die ihre 
Spitze gegen Österreich-Ungarn richtete und den Bestand der Ooppel- 
monarchie je länger desto schwerer gefährden würde. 
Im Anfang des Jahres 1912 war ein Bündnisvertrag zwischen Bul- 
garien und Serbien zustande gekommen, der sich einerseits gegen die Türkei 
richtete und zum Auê#druck brachte, daß die beiden Mächte gemeinsam 
Reformen in Mazedonien von der Pforte durchsetzen wollten und sich gegen- 
seitig beistehen würden, wenn sie von der Türkei oder — von ÖOsterreich- 
Ungarn angegriffen werden sollten. Im Laufe der Monate und angesichts 
der steigenden BVerschlechterung der Zustände in der Europäischen Türkei 
wurde das serbisch-bulgarische Bündnis allmählich in ein Offensivbündnis 
umgewandelt, auch schon die Teilung Mazedoniens ins Auge gefaßt. Für 
Meinungsverschiedenheiten nahm man die Entscheidung des russischen
	        
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