Der letzte Akt. 45
würde Rußland eine Barre quer über die Balkanhalbinsel errichtet haben,
welche ÖOsterreich-Ungarn vom Südbalkan abschnitt und gleichzeitig das
Deutsche Reich von der Türkei. Es liegt auf der Hand, daß Großbritannien
einen solchen Zustand gleichfalle mit der größten Genugtuung begrüßen
und seine Herbeiführung unterstützen mußte. Das Revaler Programm
von 1908 konnte, wennschon auf etwas andere Weise, als damals gedacht
war, nicht zweckmäßiger zur Verwirklichung gelangen. Rußland hatte seit
1909 die serbische Wut und Geringschätzung gegen Österreich-Ungarn
ständig geschürt und für später russischen Beistand versprochen. Die Be-
ziehungen zwischen Osterreich-Ungarn und Serbien waren weder politisch
noch wirtschaftlich besser geworden, und die großserbische Propaganda
arbeitete auf der Grundlage einer weitverzweigten Organisation mit Wort
und Schrift, mit Dolch und Bombe in Bosnien wie in Kroatien und
Ungarn. Während und nach der Bosnischen Krisis waren, wie wir gesehen
haben, die Beziehungen zwischen Bulgarien und ÖOsterreich-Ungarn gute
und zeitweise intime. Bulgariens Stellung auf dem Balkan war stark
gewachsen und damit auch sein Unabhängigkeitsgefühl. Für die Ziele der
russischen Politik aber war es eine entscheidende und unschätzbare Vor-
bedingung, daß nunmehr Serbien und Burlgarien sich einander näherten.
Oiese Annäherung beruhte — und das bildet den Angelpunkt des damaligen
Umschwunges — auf dem gemeinsamen Wunsche der beiden Mächte, ihr
Gebiet auf Kosten der Europäischen Türkei zu erweitern. Rußland wie
Großbritannien konnten mit diesem Ziele nicht nur einverstanden sein,
sondern mußten es fördern, wie sie nur konnten: erstens, weil sie die
Türkei schwächen und vernichten wollten, besser gesagt: vernichten lassen
wollten, und zwar am liebsten durch Balkanstaaten, zweitens, weil damit
die Ziele und Interessen des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns
gefährdet oder zerstört wurden, und drittens, weil durch die Verbindung
Bulgariens mit Serbien eine mächtige neue Koalition entstand, die ihre
Spitze gegen Österreich-Ungarn richtete und den Bestand der Ooppel-
monarchie je länger desto schwerer gefährden würde.
Im Anfang des Jahres 1912 war ein Bündnisvertrag zwischen Bul-
garien und Serbien zustande gekommen, der sich einerseits gegen die Türkei
richtete und zum Auê#druck brachte, daß die beiden Mächte gemeinsam
Reformen in Mazedonien von der Pforte durchsetzen wollten und sich gegen-
seitig beistehen würden, wenn sie von der Türkei oder — von ÖOsterreich-
Ungarn angegriffen werden sollten. Im Laufe der Monate und angesichts
der steigenden BVerschlechterung der Zustände in der Europäischen Türkei
wurde das serbisch-bulgarische Bündnis allmählich in ein Offensivbündnis
umgewandelt, auch schon die Teilung Mazedoniens ins Auge gefaßt. Für
Meinungsverschiedenheiten nahm man die Entscheidung des russischen