Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

452 1. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914. 
  
keiten und die Mahnung an die Türkei, ihre Haltung so einzurichten, daß 
man zu einer Berständigung gelangen könne. In London war seit dem 
Ende des JZahreo 1912 unter führendem Einflusse des deutschen Staats- 
sekretärs v. Kiderlen-Waechter die sogenannte Botschafter-Vereinigung 
unter dem Vorsitz von Sir Edward Grey zusammengetreten. Ihr Zweck 
war dauernder Meinungeaustausch und Verständigung über die Balkan- 
fragen und die laufenden Ereignisse dort. Ourch diesen Verkehr zwischen 
den Botschaftern hoffte man, die Längen und die Zeitverluste des diplo- 
matischen Berkehrs der Regierungen selbst untereinander zu verringern. 
Großbritannien hatte während jener Krisis die Absicht, es nach Möglichkeit 
nicht zum großen Kriege kommen zu lassen. VBon deutscher Seite ist diese 
Politik den britischen Staatsmännern damals und auch noch später hoch 
angerechnet worden. In der Tat verdiente die großbritannische Politik 
êhwar ihrer Klugheit wegen Anerkennung, aber sicherlich nicht um ihrer 
Ziele willen. Für Großbritannien stellte sich die Lage mit ihren Fragen un- 
gefähr folgendermaßen: Der Balkankrieg hatte zum größten Teile seinen 
Zweck erfüllt: er hatte die Europäische Türkei zertrümmert, die Balkan- 
staaten gewaltig gestärkt und Osterreich-Ungarn in eine überaus ungünstige 
Lage auf der Balkanhalbinsel gebracht. In London glaubte man ferner, 
daß zwischen Österreich-ngarn und Ztalien albanische Schwierigkeiten 
auf die Dauer nicht ausbleiben könnten. Man war entschlossen und glaubte 
sich fähig, das Prestige SÖsterreich-Ungarns und Deutschlands auf der 
Balkanhalbinsel und im Orient unter diesen Umständen bald vernichten zu 
können. Um die Jahreswende 1912/15 hatte es in der Tat den Anschein, 
als ob eine geschlossene slawische Balkanfront sich an den Südgrenzen 
Osterreich-Ungarns aufgerichtet hätte, und es ergab sich daraus die weitere 
Frage, ob Rumänien imstande und willens sein würde, in einem großen 
Kriege seinen Bündnioverpflichtungen den Mittelmächten gegenüber nach- 
zukommen. ODazu kam die Erwägung, daß Deutschland und Österreich- 
Ungarn sich unter Umständen von dem türkischen Freunde in einem euro- 
päischen Kriege wahrscheinlich nichts mehr versprechen könnten. Der Orei- 
verband würde dann über kurz oder lang mit der Asiatischen Türkei auf- 
räumen. Wie die Lage damals war, mußte man nach dem Zusammen- 
bruche der Europäischen Türkei allerdings mit solchen Möglichkeiten rechnen. 
Oieses waren in der Hauptsache die Gründe, welche die deutsche Re- 
gierung veranlaßten, die große Heeresvorlage von 1915 zu Anfang jenes 
Jahres anzukündigen und demzufolge einzubringen. Im Frühsommer 
1915 erfolgte die Bewilligung der Heereovorlage, welche endlich der deut- 
schen Wehrkraft zu Lande eine wesentliche Erhöhung ihres Standes brachte. 
Es war hobe Zeit, das hat das folgende Jahr bewiesen. Die Heeresvorlage 
des Jahres 1912 war, wie wir gesehen haben, unbeträchtlich und auch für
	        
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