Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Oer letzte Alt. 455 
  
Lebensfrage war, Serbien nicht ans Meer zu lassen, und daß die österrei- 
chisch-ungarische Regierung unter allen Umständen mit bewaffneter Hand 
gegen Serbien eingeschritten wäre. Das wollte und konnte Btalien seiner- 
seits nicht dulden, war aber selbst nicht zum Kriege bereit, und deswegen 
schloß es sich unter stets vermittelnder deutscher Einwirkung der österrei- 
chisch-ungarischen Aktion an. Ein serbisches Albanien lag im übrigen nicht 
im Znteresse Ftaliens, ebensowenig wie ein Ubergreifen Griechenlands von 
Süden her nach Albanien. Ourch seine innere Lage, durch die griechischen 
Bestrebungen und die vorher geschilderten Entwicklungen fand Ztalien 
sich damals überhaupt mehr auf seine Zugehörigkeit zum Oreibunde 
angewiesen als seit langer Zeit. Im Dezember 1912 wurde unter beson- 
ders warmer Zustimmung der öffentlichen Meinung Ztaliens der Drei- 
bundvertrag erneuert, obgleich erst im Zahre 1914 die Erneuerung fällig 
gewesen wäre. Oie italienische Regierung stärkte damit, ohne ihre Bezie- 
hungen zu Großbritannien wie zu Rußland zu verschlechtern, ihre Stellung 
am Adriatischen Meere und behielt einen wachsenden Einfluß in der ganzen 
südöstlichen Politik der beiden Zentralmächte. 
Mitten in dieser gespannten Zeit und an Verwicklungen reichen Lage 
starb der Staatssekretär v. Kiderlen-Waechter. Es ist noch nicht der Augen- 
blick, ohne Rückhalt über die Persönlichkeit und Tätigkeit dieses viel- 
umstrittenen Mannes zu urteilen. v. Kiderlen-Waechter war ein Staatsmann 
von starkem Willen und nüchternem Verstande. Er wurde aber beeinträchtigt 
durch manche merkwürdige Einseitigkeit und einen außerordentlichen 
Eigensinn. Man hat den Eindruck, daß er auf dem Programm seiner Politik, 
welches er schon seit manchen Jahren vor der Ubernahme des Staatssekre- 
tariats in sich getragen haben mag, mit einem gewissen intransigenten 
Starrsinn beharrte und sich nicht bewegen ließ, dieses Programm, sei es im 
ganzen, sei es im einzelnen, auch nur zu diskutieren. Bevor er nach Berlin 
kam, war er lange Zeit Gesandter in Bukarest, ließ sich außerdem angelegen 
sein, die orientalischen Berhältnisse gründlich kennenzulernen. Später 
hat man gesehen, daß das Ergebnis seiner Bukarester Zeit ein negatives 
geworden ist und daß er die Verhältnisse und Tendenzen in Rumänien 
nicht richtig eingeschätzt hat. Er hatte nicht erkannt, daß die Zeiten eines 
dem Oreibunde ohne weiteres und unter allen Umständen treu ergebenen 
Rumänien vorbei waren, und es lag ihm deshalb auch noch als Staatssekretär 
fern, durch eine entsprechend energischere und sorgsamere Pflege der deutsch- 
rumänischen Beziehungen den neuen Berhältnissen Rechnung zu tragen. Die 
Nolle v. Kiderlen-Waechters in der Marokkoangelegenheit ist behandelt 
worden. Während dees Balkankrieges, den er, wie gesagt, nicht hatte kommen 
sehen und binsichtlich dessen er die Kraft der Türkei und ihrer Gegner voll- 
kommen falsch einschätzte, war sein Hauptbestreben, die Gelegenheit zu be-
	        
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