458 4. Abschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Einkreisung. 1908—1914.
der in London vorgeschlagenen Grenze Enos—Midia nicht unerheblich
besserte, der Pforte außerdem einen hohen moralischen Erfolg brachte.
Bulgarien fügte sich protestierend, und der Zar Ferdinand ermahnte
sein Bolk, das Unglück schweigend zu ertragen und auf bessere Zeiten zu
warten. Oas Schicksal Bulgariens, welches immerhin die Hauptlast des
Krieges getragen und nachber der Gewalt einer erdrückenden Ubermacht
hatte weichen müssen, war in der Tat hart. Die Hilferufe, welche Danew
und der König in der Not des zweiten Balkankrieges nach St. Peters-
burg richteten, verhallten ungehört, und Zar Nikolaus II. soll geäußert
haben, Bulgarien hätte sein Schicksal verdient. Oieses russische Fallen-
lassen Bulgariens hat verschiedene, vielleicht auch persönliche Gründe
gehabt. Zn der Hauptsache soll der Grund gewesen sein, daß Danew da-
mals gelegentlich seiner Mission bei Kaiser Franz Joseph in Pest ohne
Wissen Serbiens und Rußlands diesem von seiten König Ferdi-
nands ein Bündnis mit Bulgarien angeboten habe. Das weäre eine
bulgarische Doppelpolitik gewesen, denn, wie ausgeführt worden ist, war
der unmittelbare Zweck der Danewschen Sendung im Einverständnis mit
Rußland, Serbien und Griechenland: ÖOsterreich-Ungarn abzuhalten, das
Schwert gegen Serbien zu ziehen. In Belgrad hatte man nun nachber
von dem bulgarischen Bündnisvorschlag an ÖOsterreich-Ungarn Kenntnis
erlangt, ihn nach Petersburg berichtet und damit starke Erregung gegen
Bulgarien hervorgerufen. Die Folge war, daß Rußland die Nieder-
werfung Bulgariens durch die vereinigten Balkanmächte und ihre Bergröße--
rung auf Bulgariens Kosten nicht hinderte, sondern befriedigt mit ansah.
In Wien faßte man das Berhalten Bulgariens realpolitischer auf
und begriff, daß der König Ferdinand, als er jene Militärkonvention mit
Serbien schloß, sich in einer politischen Zwangslage befunden hatte. Die
österreichisch-ungarischen Staatsmänner hielten deshalb eine Politik für
richtig, welche nicht nur die Beziehungen mit Bulgarien für die Zukunft
aufrechterhielt und stärkte, sondern auch Bulgarien beispränge in seiner
verzweifelten Lage, jedenfalls nach Kräften versuchte, ihm guten Willen
zu zeigen. So trat ÖOsterreich-Ungarn für eine NRevision des Bukarester
Friedensvertrages ein, als dessen Bedingungen bekanntgeworden waren.
Österreich-Ungarn mußte auch vom Standpunkte des eigenen Interesses
diese Bedingungen als höchst ungünstig ansehen: Serbien war um das
Ooppelte vergrößert und Osterreich-Ungarn gegenüber angriffslustiger
denn je zuvor. Osterreich-Ungarns Prestige auf der Balkanhalbinsel war
stark beeinträchtigt, sowohl durch die neue Gebietsverteilung der Balkan-
staaten, alo auch dadurch, daß die Doppelmonarchie nach außen hin den
Eindruck der Zwiespältigkeit und Unentschlossenheit gerade im Hinblick
auf Serbien erweckt hatte. Gegenüber einem Großserbien, dessen Zu-