474 4 A#bschnitt. Marokko und Balkan als Angelpunkte der Eintrelsung. 1908—1914.
auf die Interessensphäre zu legen. In Frankreich wurde dieser Gedanke
eifrig und emsig gefördert, ebenso in Rußland. Man hoffte, auf diese
Weise Verstimmung in der Türkei gegen das Oeutsche Reich hervor-
rufen zu können. Die Bemühungen waren vergebene, aber sie zeigten
auf der anderen Seite, daß die Mächte des Dreiverbandes sehr ernstlich
mit einer Alufteilung der Türkei rechneten. In der französischen Presse
kam dieser Gedanke wiederholt zum Ausdruck. Der Grund hierfür war
keineswegs der oft behauptete, das Türkische Reich sei nicht lebensfählg,
sondern lag in der wachsenden Militärmacht Rußlands.
Ze größer die Fortschritte der russischen Rüstungen wurden, eine
desto deutlichere Sprache führte die russische Presse. Das Wort von
Konstantinopel als dem geschichtlichen Ziele, welches Peter der Große
den Russen für alle Zukunft gewiesen habe, kehrte immer häufiger wieder.
Russische Politiker, Militärs und Professoren setzten kübl und selbstsicher aus-
einander, daß ein Konflikt mit den Mittelmächten, insbesondere mit dem
Deutschen Reiche, unvermeidlich sei, wenn dieses zusammen mit Öster-
reich-Ungarn eine Balkan- und Orientpolitik zu treiben fortfahre, welche
dem unwiderstehlichen Zuge der russischen Ausdehnung ebendorthin zu-
widerlaufe. Im Frühjahr 1914 erklärte die russische Presse und erklärten
russische Minister: Rußland sei stark und werde mit jedem Jahre stärker.
Mit dem in einigen Zahren bevorstehenden Ablaufe der russisch-deutschen
Handelsverträge würden die Deutschen diese Stärke zu merken bekommen.
Deutschland habe damals für die Gestaltung der bestehenden Handelsverträge
sich die Schwächung Rußlands durch den Ostasiatischen Krieg zunutze gemacht.
Die Zeiten seien vorbei, Rußland werde sich demnächst endgültig von der
Herrschaft der deutschen Wirtschaftsdespotie befreien. — Ein Symptom
dieser Art folgte dem anderen. Im Närz 1914 erschien ein vielbeachteter
Artikel des Petersburger Vertreters der Kölnischen Zeitung, welcher aus-
führte: die russischen Rüstungen seien ganz ungeheure, dabei zweifellos
zu Lande wie zur See gegen Deutschland gerichtet. Im gesamten russischen
Volke würde ein solcher Krieg begeisterte Zustimmung finden. Im Jahre
1916 oder 1917 sei man fertig und wolle dann losschlagen. Beiläufig be-
merkt, stimmt dieser Termin mit jenen Abmachungen von Reval im Jahre
1908 überein. Oer russische Kriegsminister, Herr Suchomlinow, ließ in
einem Petersburger Blatte darauf antworten: Rußland wünsche zwar
nicht den Krieg, wäre aber bereit zum Kriege. Rußlands Heere hätten
ihre Kriege immer auf feindlichem Boden geführt und stets sei der Sieg
mit ihnen gewesen. Beschwichtigende Erklärungen des deutschen Staats-
sekretärs und des russischen Ministers des Auswärtigen folgten, konnten
aber nicht den Eindruck beseitigen, daß in Rußland der Gedanke allgemein
und herrschend geworden war: der große Krieg stehe in Bälde bevor und.