Oie Ruckversicherung und ihre Auflösung. ,E 23
nehmen, daß das Oeutsche Reich einem nach Osten angriffslustigen Öster-
reich mit Wohlwollen in irgendeiner Form zur Seite stehen würde.
Der Staatssekretär Freiherr v. Marschall wies in seiner Reichstags-
rede auf die großen Schwierigkeiten hin, die das Vorhandensein des Rück-
versicherungsvertrages politisch und diplomatisch in sich getragen habe.
Zm akuten Falle, so meinte er, würde es sich immer um die schwierige
Entscheidung für das Oeutsche Reich gehandelt haben, ob Angriff vor-
liege oder Verteidigung, und gerade im Hinblick auf die russisch-öster-
reichischen Reibungen würde man so nach der einen Seite oder nach der
anderen in die unangenehmste Lage gekommen sein und entweder die
Freundschaft Rußlands oder die Osterreich-Ungarns verscherzt haben.
Das kann bis zu einem gewissen Grade sicher zutreffen. Aber es ist schließlich.
bei allen Bündnissen mehr oder weniger der Fall. Deutschland hat heute
ebenso wie je das Interesse, mit dem Russischen Reiche nicht nur in freund-
schaftlichen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen zu leben. In
russisch-österreichischen Konflikten steht das Deutsche Reich äußerstenfalls
auch heute vor der subjektiven Entscheidung, ob Osterreich-Ungarn ange-
griffen hat oder angegriffen worden ist, und macht sich mit dieser Ent-
scheidung eine der beiden Mächte zum Feinde. Die Frage der Bündnisse
im Kriege ist immer eine offene, denn es können jeden Augenblick Um-
stände eintreten, welche Bismarck mit den Worten angedeutet hat: Keine
Macht sei verpflichtet — wir setzen hinzu: und berechtigt —, wichtige
eigene Lebensinteressen auf dem Altar der Bündnistreue zu opfern! —
Bündnisverträge sind erprobtermaßen in Friedenszeiten mächtige diplo-
matische Werkzeuge und besonders für die Erhaltung des Friedens, auch
bei aktiver Politik, nützlich. Sache eines leitenden Staatsmanns wird es
sein, vor Ausbruch eines Krieges eine Lage herzustellen, die es dem Bundes-
genossen vorteilhaft erscheinen läßt, die von ihm übernommenen Bünd-
nisverpflichtungen zu halten. Unbedingtes aber gibt es auf dem Gebiete
der Bündnistreue sicher nicht. Gerade wegen der außerordentlichen Wichtig-
keit von Bündnisbeziehungen in Friedenszeiten war der Rückversicherungs-
vertrag so wertvoll, denn jeder der europäischen Staaten hatte so ein
schweres Risiko in teils unbestimmter Form vor sich, und alle diese Risikos
lagen in der Hand Biemarcks.
Es ist also sachlich unzutreffend, wenn gesagt wird, Biomarck habe
durch den Rückversicherungsvertrag Rußland isoliert und seine Politik
lahmgelegt oder von Deutschland abhängig gemacht. Das Gegenteil war
richtig: der Rückversicherungevertrag gab Rußland die wohlwollende Neu-
tralität seines Grenznachbarn Deutschland — und damit de tacto auch
die wohlwollende ANeutralität Österreich-Ungarns — in einem Kriege
mit Großbritannien, derjenigen Macht, welche Rußland als den Gegner