Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

Zwei neue Mächtegruppen. 37 
samer Interessen; Erhaltung des Friedens. Das sind also Grundlagen, 
die sehr viel breiter sind als die etwa des deutsch-österreichischen Bünd- 
nisses. Hier setzt das Eintreten des sogenannten Bündnisfalles den Angriff 
einer bestimmt bezeichneten dritten Macht voraus, die Bedingungen 
sind so genau bestimmt, wie es überhaupt im voraus möglich ist. Im 
Falle des russischen und französischen Bündnisses war aber, wie es scheint 
und wie es von sehr unterrichteten französischen Politikern und Schrift- 
stellern bestätigt wird, der Spielraum und damit die Willkür der Auf- 
fassung und Auslegung ungleich größer. Was sind gemeinsame ZInteressen, 
wann erachtet man sie als bedroht, mit welchen Mitteln verteidigt man 
sie, mit welchen Mitteln erhält man einen Frieden, dessen Basis man 
nicht anerkennt? — Das waren Fragen, die ebenso nach Belieben beant- 
wortet werden konnten wie die weitere: ob die gemeinsamen Interessen 
und die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts nicht zweckmäßiger 
durch den Angriff verteidigt werden. 
Wären Alexander III. und MNikolaus II. nicht persönlich friedliebend 
gewesen, so würde das Bündnis mit Frankreich schon viel früher Europa 
den Krieg gebracht haben, darüber kann kein Zweifel sein. In jener ernsten 
Zeit, Anfang des Jahres 1893, wo die Panamaskandale das Ansehen Frank- 
reichs und seine innere Einheit schwer gefährdeten, war es nur eine natür- 
liche Reaktion, daß in Frankreich Politiker, Soldaten und öffentliche Mei- 
nung wünschten, „die schmutzige Wäsche der Republik mit Blut zu waschen“. 
Alexander III. aber dachte anders und war nach wie vor weit entfernt 
von Kriegswünschen: „Gott gebe Frieden, Ruhe und allseitiges Wohler- 
gehen uns allen in der teuren Heimat !“ Als Alexander im Anfange des 
gleichen Fahres 1893 den Grundstein zum neuen Hafen von Libau legte, 
da wies er auf die vielen im Baltischen Meere erfochtenen Siege der ruf- 
sischen Flotte hin und auf die Angriffe, die von hier aus auf die russischen 
Grenzen ausgeführt werden könnten. Er glaubte immer noch an die Mög- 
lichkeit eines deutschen Angriffes, und der Zollkrieg mit Deutschland, unter 
dem die russischen Berhältnisse schwer litten, erböhte seine Abneigung 
und sein Mißtrauen. 
Nach zweimaligem Aufschube erfolgte 1893 die Reise des Admirals 
Avellan nach Toulon, und die Entzückung der Franzosen stieg zum Gipfel. 
Reden wurden gehalten, Telegramme gewechselt, aber vom Bündnisse 
noch nicht gesprochen, aus dem einfachen Grunde, weil es noch nicht ab- 
geschlossen war. Das Telegramm, welches der Zar beim Abschiede des 
Geschwaders von Toulon an den Präsidenten Carnot richtete, enthielt 
nur die verschieden deutbaren Wendungen: „Die Beweise lebhafter Som- 
pathie, welche sich noch einmal in so beredter Weise gezeigt haben, knüpfen 
ein neues Band zu denjenigen, welche unsere beiden Länder vereinigen,
	        
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