Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

42 1. Abschnitt. Von Rußland zu Großbritannien. 1887—1894. 
  
deutscher Vormundschaft standen oder von steigendem deutschen Ein- 
flusse durchdrungen wurden — aber nicht unmittelbar ausnutzbar waren 
und ihm als wertlos erschienen — nur als Mittel seiner auswärtigen Poli- 
tik, nicht als Selbstzwecke innerhalb des Rahmens der Kolonialpolitik. 
Es kann sicherlich nicht behauptet werden, daß ein solches Verfahren unter 
allen denkbaren Umständen unrichtig sei. Nützlich und zweckmäßig kann 
es aber nur dann sein, wenn der Leiter der Politik sich in vollem Umfange 
über den kolonialen Wert der kolonialen Objekte klar ist, die er als Mittel 
seiner auswärtigen Politik nutzbar machen will, und sie nicht nur als realen, 
sondern auch als eventualen Wert beurteilt. 
Hohenlohe schreibt in seinen Denkwürdigkeiten unter dem 19. Zuni 
1890: „Aus den Mitteilungen, die ich gestern im Auswärtigen Amt er- 
hielt, geht hervor, daß das Abkommen keineswegs ungünstig ist, und daß 
wir mit der Abtretung von Helgoland zufrieden sein können. Dazu kommt, 
daß, wie Münster (der deutsche Botschafter in London) geschrieben hat, 
die Stimmung in England uns sehr ungünstig war, da wir in der Kolonial- 
politik die Engländer in ungewohnter Weise auf die Hühneraugen getreten 
hatten. Wir waren also der Gefahr ausgesetzt, daß sich England an Frank- 
reich und Rußland angeschlossen hätte, was ganz gefährlich geworden 
wäre.“ 
Wir wissen nicht, wie weit die damals von England gemachten Schwie- 
rigkeiten oder drohenden Andeutungen gegangen sind. Jedenfalls ist aber 
schwer denkbar, daß sie einer geschickten Diplomatie unmöglich gemacht 
hätten, jene kolonialen Einfluß- und Grenzfragen auch weiterhin auf die lange 
Bank zu schieben. Die einzige heute feststellbare Tatsache ist die, daß der 
Reichskanzler v. Caprivi dieser Ansicht war und hauptsächlich deshalb den 
Tausch bzw. das Abkommen für nötig und für nützlich hielt. Er war der 
Meinung, daß Deutschland in Ostafrika nur Dinge opfere, die ohne Wert 
seien; daß man dafür den wertvollen Küstenstreifen und das wertvolle 
Helgoland erhalte, außerdem, und das war die Hauptsache, enge freund- 
schaftliche Beziehungen zu England. 
Es ist leider nicht festzustellen, in welchen zeitlichen Berhältnissen 
zueinander Gedanke und Ourchführung des Abkommens mit England 
zu dem Gedanken des Aufgebens des deutsch-russischen Neutralitätsver-- 
trages gestanden haben. Es ist wahrscheinlich, daß sie aus derselben drei- 
fachen Wurzel erwachsen sind: dem Gefühle der persönlichen Unmöglich- 
keit, das von Bis#marck errichtete Sostem europäischer Politik aufrecht- 
zuerhalten und zu meistern; dem Mißtrauen gegen Rußland, der Zu- 
gänglichkeit gegenüber den Argumenten britischer Staatsmänner; eine 
Zugänglichkeit wiederum, die sich teilweise in der Überzeugung Caprivis 
begründete, das Deutsche Reich bedürfe nach seinen Verhältnissen engsten
	        
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