Full text: Von Potsdam nach Doorn.

süddeutsche Besorgnis vor französischem Angriff, und bis 1870 hatte man 
begriffen, daß nur Preußen bzw. der Norddeutsche Bund den Süden schützen 
könne. 
Das Reich war nun da, die Reichsverfassung war da, legal in Kraft ge- 
setzt. Ein ungeheurer deutscher Erfolg nach außen und im Innern war unter 
genialer politischer und militärischer Führung errungen worden. Anstatt der 
früheren Sehnsucht nach dem Reich hatten sich nunmehr ein bisher un- 
gekanntes deutsches Selbstgefühl bei einem großen, vielleicht beim größten 
Teil der Deutschen eingestellt und ein patriotischer Schwung, wie er noch 
nicht dagewesen war, verbunden freilich mit einem gewaltigen und hoch- 
tönenden, überheblichen Phrasenschwall, der bald zu einem Übel wurde, 
als allzu viele Deutsche so sprachen, als ob jeder von ihnen den Krieg ge- 
wonnen hätte. 
Bismarck sah zugleich mit dem Kriegsende eine riesenhafte Aufgabe und 
Arbeit vor sich, mit seinem nüchternen Auge und Urteil, das nie durch einen 
noch so glänzenden Erfolg geblendet oder getrübt werden konnte. Oder hatte 
ersich doch einer Illusion hingegeben ? — wir meinen: das allgemeine, gleiche, 
direkte und geheime Wahlrecht. — Es wurde wiederholt darüber gesprochen, 
auch eigene Worte Bismarcks angeführt. Und es muß immer wieder davon 
gesprochen werden, denn als Problem, als Übel und als Gefahr, geht dieses 
Wahlrecht mit seinen Wirkungen durch die folgenden Jahrzehnte hindurch. 
Als Bismarck diese ‚damals stärkste der freiheitlichen Künste‘ in die 
Öffentlichkeit warf, wollte er, ebenfalls nach seinen Worten, das Ausland 
hindern, ‚seine Finger in unsere nationale Omelette zu stecken‘. Er wollte 
ferner diese nationaldeutsche alte Forderung, die schon 1848 in Frankfurt 
erhoben war, verwirklichen, zugleich dem Liberalismus zeigend, daß er 
nicht der beschränkte Reaktionär war, nicht der Mann des Großpreußen- 
tums, sondern der Mann des Reichs. Taktisch kam dazu, daß Österreich 
unter keinen Umständen das allgemeine Wahlrecht annehmen konnte. 
Aber außer allen diesen Gründen und Zwecken und abgesehen auch davon, 
daß Bismarck, wenn er ein Ziel im Auge hatte, alles in dessen Dienst zu 
stellen versuchte, was nur irgend möglich war, hier für das Ziel: Reich — so 
scheint doch, daß Bismarck ein gewisses Vertrauen darauf gehabt hat, das 
allgemeine Wahlrecht werde sich als hervorragend wirksames Mittel be- 
währen dafür, daß das 1870/71 durch Zusammenfassung der Einzelstaaten 
entstandene Gebilde zu einem wirklichen Reich, von nationalem Reichs- 
geist durchdrungen, werden würde. 
Seine „Gedanken und Erinnerungen‘ und auch Äußerungen gegenüber 
Einzelpersonen zeigen eine steigende Erbitterung, um nicht zu sagen 
Bitterkeit gegenüber den späteren Wirkungen des allgemeinen und direkten 
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