gessen dürfen, daß die Neugründung des Deutschen Reiches durchaus nicht
in konservativem Geiste erfolgte, auch nicht in liberalem. Bismarck be-
diente sich dieser beiden Richtungen lediglich in dem Gedanken, unter allen
Umständen sein jeweils nächstnötiges großes Ziel durchzusetzen. Daß er den
Parlamenten an sich ebenfalls keinerlei Achtung entgegenbrachte, hat er im
Konflikt der ersten sechziger Jahre und späterhin genugsam gezeigt.
Für den König ist also die Annahme des Kaiser-Titels zunächst eine
sehr schwere und qualvolle Überwindung gewesen, nicht etwa ein mehr oder
minder kokettes Zaudern und Sich-Zieren. Alle solche Dinge lagen König
Wilhelm fern. Ebensowenig handelte es sich um ein bewußtes Spiel, etwa,
wie es Shakespeare in seinem ‚Richard der Dritte‘ vorführt: Richard läßt
sich in einem abgekarteten Spiel die Königskrone anbieten, weist sie zwei-
mal zurück und nimmt sie das drittemal. Nein, dieser innere Kampf Wil-
helms des Ersten war von Anfang bis Ende echt.
Mit der Zeit erkannte auch er die Wahrheit des Bismarckschen Urteils: in
dem Worte Kaiser liege eine große nationale Schwungkraft. Freilich war es
nicht das Wort Kaiser allein, sondern vor allem die ehrwürdige Persönlich-
keit dieses Herrschers. Es läßt sich nicht entscheiden, aber die Frage muß
aufgeworfen werden, ob es Bismarck gelungen sein würde, das Reich zu-
stande zu bringen, wenn nicht Wilhelm der Erste, sondern eine Persönlich-
keit König von Preußen gewesen wäre, die nicht so wie er eine allgemeine
Verehrung und ein unbegrenztes Vertrauen genossen hätte. Wilhelm hatte
als Prinz in den Befreiungskriegen an der Front gekämpft und sich durch
Tapferkeit ausgezeichnet, vorher die Napoleonische Erniedrigung und Lei-
denszeit durchgemacht, dann die zweite Erniedrigung Preußens in den Revo-
lutionsjahren um 1848. Dann war er im Jahrzehnt von 1862 bis 1871, zur
höchsten Höhe emporsteigend, zum Symbol des Kaisergedankens geworden,
ohne Ruhmsucht und Ehrgeiz nur einer für ihn bitteren Pflicht Gehorsam
leistend.
Fürsten — Allgemeines Stimmrecht
Sieht man von Kleinlichkeiten und Nebendingen ab, so ist nicht in Abrede
zu stellen, daß die damalige Generation deutscher Fürsten sich für das Zu-
standekommen des neuen Deutschen Reiches ein geschichtliches Verdienst
erworben hat, auch weil die Fürsten begriffen, daß dieser politische und wirt-
schaftliche Zusammenschluß schon längst eine Notwendigkeit geworden, daß
der große Augenblick jetzt da war und nicht verpaßt werden durfte, und daß
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