Full text: Von Potsdam nach Doorn.

erste Bedingung galt mir die Unabhängigkeit Deutschlands auf Grund einer 
zum Selbstschutz hinreichenden starken Einheit In dieser Auffassung 
kam es mir auf die Frage, ob liberal, ob konservativ — in der damaligen 
Koalitionsgefahr so wenig an wie heute, sondern auf die freie Selbstbestim- 
mung der Nation und ihrer Fürsten.“ 
Das konservative Hauptorgan, die ‚Neue Preußische Kreuzzeitung‘‘, hin- 
gegen erklärte dem Reichsschöpfer den Krieg, weil er Parlamentsherrschaft 
und Atheismus proklamiert habe. Mit dem Atheismus war in erster Linie die 
Einführung der Zivilehe gemeint, die Einschränkung der geistlichen Schul- 
aufsicht und anderes mehr. Selbst der alte Feldmarschall von Roon, der 
streng konservativ gesinnt war, schrieb an seinen Sohn: ‚Die Partei muß 
endlich begreifen, daß ihre heutigen Auffassungen und Aufgaben wesentlich 
andere sein müssen als zu den Zeiten des Konflikts ; sie muß eine Partei des 
konservativen Fortschritts sein und werden und die Rolledes Hemmschuhs 
aufgeben.‘‘ — Die Mahnung verhallte wirkungslos, und Bismarck kenn- 
zeichnete die Partei richtig: sie habe mehr preußisches als deutsches Natio- 
nalgefühl. Daneben spielten persönliche Eifersüchteleien bis zum Haß eine 
wesentliche Rolle in dieser Partei. 
Ebensowenig machte Bismarck sich Illusionen über die anderen Parteien: 
„Es schien, als ob im nationalliberalen Lager eine gewisse Genugtuung 
darüber herrschte, daß die Konservative Partei mich angriff, und als ob 
man bemüht wäre, den Bruch zu erweitern und bei mir den Stachel tiefer 
einzudrücken. Liberale und Konservative waren darüber einig, je nach dem 
Fraktionsinteresse, mich zu verbrauchen, fallen zu lassen und anzugreifen.‘ 
So sehen wir schon unmittelbar nach Entstehung des Reiches den Parla- 
mentsjammer, der einige Jahrzehnte später zur Katastrophe und zum Ver- 
hängnis werden sollte. Die großen Ereignisse des sechziger Jahrzehnts, die 
ruhmreichen und siegreichen Kriege und schließlich die Reichsschöpfung 
selbst, das alles vermochte nicht, die Kleinlichkeit und den Hader der Frak- 
tionen in den Parlamenten auch zu beeinflussen. Daß der große Mann alles 
bekämpfte, was sich seiner Reichspolitik entgegenstellte, sich allen Partei- 
und Fraktionsführern weit überlegen zeigte, erbitterte noch mehr. Dazu kam 
in großen, besonders außenpolitischen Fragen ein erstaunlicher Mangel an 
Verständnis und an politischem Blick, die unbesiegliche Neigung zu Phrasen 
und zu ‚Ideologien‘, die keine waren, zu Verkennung der Kernfragen der 
Zukunft und, besonders in den ersten Jahrzehnten, das Unverständnis für 
die Notwendigkeit, mit allen nur möglichen Mitteln das Reich nach außen zu 
festigen, unabhängig und wehrhaft zu erhalten. Vielfach herrschte anstatt 
dessen der bequeme geringschätzige Glaube: nach außen könne jetzt über- 
haupt nichts mehr schief gehen. 
128
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.