Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Beispiel die in England geltenden Verhältnisse auf Deutschland übertragen 
könne. Dazu kam die spezifisch deutsche Eigenschaft der deutschen Libe- 
ralen: die Arbeiterschaft durch Förderung ihrer intellektuellen Bildung 
politisch gewinnen zu können. Zwar hatten die liberalen Arbeiterbildungs- 
vereine in den ersten sechziger Jahren einige Erfolge aufzuweisen, dann trat 
ihnen aber in der Persönlichkeit des Juden Lassalle ein an agitatorischer Be- 
fähigung weit überlegener sozialistischer Gegner entgegen. Lassalle wurde 
Anfang 1864 im Duell erschossen. Seine Agitationskraft war nicht ersetzlich, 
wenn freilich sein Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein sich noch hielt. 
Aber auch die liberalen Arbeitervereine entwickelten sich in der zweiten 
Hälfte jenes stürmischen Jahrzehnts nicht mehr weiter. Der Schwerpunkt 
der Arbeiterbewegung rückte dem alten Gesetze folgend immer weiter nach 
dem radikalen Flügel. So war jene Vereinigung der Richtungen zur ‚‚Sozia- 
listischen Arbeiterpartei Deutschlands‘ das natürliche Ergebnis einer Ent- 
wicklung, die aus einer ungleich breiteren Grundlage erwachsen war. Die 
Entwicklung war gezeugt worden von der Dampfmaschine mit dem enorm 
zunehmenden Verkehr, kurz allen jenen Vorgängen und Umschwüngen des 
neunzehnten Jahrhunderts. Die Dampfmaschine hatte die Fabrik hervor- 
gebracht, das Dampfschiff vervielfachte den überseeischen Verkehr ineinem 
früher nicht zu ahnenden Maßstabe, hinzukam der internationale Kredit- 
verkehr. Die mit Dampf betriebene Fabrik brachte die Fabrikstadt hervor, 
und diese wurde der Geburtsort einer ganz neuen Erscheinung: derMassen! 
Die Massen waren bisher weder als Begriff noch als Wirklichkeit vorhanden 
gewesen, jetzt waren sie da und wurden mit jedem Jahre größer. 
Das gemeinsame Kennzeichen der Massen: das Verschwinden, die Ver- 
nichtung der einzelnen Persönlichkeit, beruhte in ihrer Gleichartigkeitdurch 
industrielle Fabrikarbeit, die eine Lohnarbeit war. Daraus erwuchs die 
andere Gleichartigkeit in Gestalt der völligen Abhängigkeit vom Fabrik- 
herrn, der der Brotgeber war, weil er Arbeitgeber war. Er konnte dem Arbeit- 
nehmer von einem Tage zum andern Brot und Lebensmöglichkeit nehmen, 
indem er ihn ohne weiteres entließ; Ersatz fand er genug. Der Arbeitgeber 
konnte außerdem nach eigenem Herrengutdünken dem Arbeitnehmer seinen 
Lohn kürzen und seine Arbeitszeit festsetzen, wie er wollte. War der Arbeit- 
nehmer damit nicht zufrieden, zum Beispiel zwölf oder vierzehn Stunden zu 
arbeiten, so konnte er eben gehen. 
So lagen, grob gezeichnet, die Verhältnisse noch um die Mitte des ver- 
gangenen Jahrhunderts. Der Staat kümmerte sich um diese Dinge wenig 
oder gar nicht. Jene ganze Zeit weist nur eine einzige Verordnung deutscher 
Staaten, und zwar in Preußen, auf, die die Kinderarbeit einschränkte. Im 
übrigen überließBen es die Staaten den Arbeitgebern, den Fabrikherren, 
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