Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Und die gleiche tiefe, zornige Sorge sprach sich in einer der letztenReden, 
die Bismarck im Reichstag gehalten hat, aus: ‚Lassen Sie den nationalen 
Gedanken leuchten vor Europa, jetzt ist er in der Verfinsterung begriffen.‘“ 
Der nationale Gedanke hatte in dieser Verbindung, wiein den verflossenen 
Jahrzehnten, den Sinn der deutschen Einheit, und zwar nicht nur der 
äußeren, also auch den der Einigkeit: den Reichsgedanken. Bismarck 
hatte diesen Reichsgedanken verwirklicht, bald würde er wahrscheinlich 
nicht mehr in der Lage sein, durch seine Kraft, seine Erfahrung und seinen 
Weitblick zu erhalten, was er geschaffen hatte. Es war keine Übertreibung! 
Der nationale Gedanke war in der Verfinsterung begriffen, Europa sah ihn 
nicht mehr leuchten, sondern verfolgte schadenfroh und hoffnungsfroh die 
Fortschritte der Verfinsterung. 
Die Geburt des neuen Reiches und seine Ausgestaltung, seine mächtige 
Stellung in Europa war für keine der anderen Mächte eine Freude; im Ge- 
genteil: man sah mit Ungeduld im Ausland dem Augenblick entgegen, daß 
Bismarck von seinem Platz verschwände oder stürbe. Solange er lebte und 
im Amt war, war eben nichts zu machen. — 
Bismarck.sah klarer und richtiger als alle in Deutschland die Größe der 
Gefahren, die dem Reich von innen und von außen drohten und vollends 
nach seinem Weggang oder Tod drohen würden. So wurde die Unruhe, die 
Sorge, ja die Angst vor dieser Zukunft zum mächtigen, ungestümen 
Drängen: die Zeit und alle Kräfte, die ihm noch blieben, aufs äußerste aus- 
zunutzen zur Festigung seines Werks. 
In der Konfliktszeit der sechziger Jahre hatte Bismarck die preußische 
Monarchie vor der Gefahr bewahrt: im besten Fall ein Etikett des demo- 
kratischen Parlamentsstaates zu werden, im schlimmsten, das Schicksal 
Louis Philipps zu teilen und der demokratischen Republik Platz zu machen. 
Dem preußischen Ministerpräsidenten war damals gelungen, Preußen zu 
einer Großmacht und zur Vormacht in Deutschland zu machen und die 
Monarchie zu einer Macht, Autorität und Festigkeit zu bringen, wıe sie sich 
auch die kühnsten Träume preußischer Monarchen und Monarchisten des 
neunzehnten Jahrhunderts nicht hatten vorstellen können. Auf dieses fest- 
gegründete und autoritative Königtum der Großmacht Preußen hatte Bis- 
marck ebenso fest das preußisch-deutsche Kaisertum gestellt und in ihm ver- 
ankert; nicht um der Monarchie und des preußischen Königtums an sich 
willen, sondern weil dieses ihm als eine wichtigste Garantie der Reichs- 
einheit erschien, also als Mittel für diese, für das Reich, nicht umgekehrt: 
der Kaiser war nur um des Reiches, nur um der deutschen 
Einheit willen geschaffen worden. 
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