Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Bindemittel herzustellen, ‚die haltbar genug wären, um zentrifugalen An- 
wandlungen einzelner Bundesregierungen Widerstand zu leisten. Die Über- 
zeugung, daß ich mich in dieser Rechnung geirrt, daß ich die nationale Ge- 
sinnung der Dynastien unterschätzt, die der deutschen Wähler oder doch des 
Reichstags überschätzt hatte, war Ende der siebziger Jahre in mir noch 
nicht zum Durchbruch gekommen Jetzt habe ich den Dynastien Abbitte 
zu leisten; ob dıe Fraktionsführer mir ein Pater peccavi schuldig sind, dar- 
über wird die Geschichte einmal entscheiden. Ich kann nur das Zeugnis ab- 
legen, daß ich den Fraktionen .. eine schwerere Schuld an der Schädigung 
unserer Zukunft beimesse, als sie selbst fühlen.‘ 
Es kennzeichnet die Oberflächlichkeit des ‚„Geistes‘‘ jener Jahrzehnte 
nach dem Siebziger Kriege, daß man die wiederholten sorgenschweren Mah- 
nungen des Kanzlers in den Reden seiner letzten Amtsjahre in der deutschen 
Bevölkerung, auch in nationalen Kreisen, nicht ernst nahm. Wie verschieden 
und vielfach entgegengesetzt Standpunkte, Meinungen, Lebensverhältnisse 
waren, so bestand doch jedenfalls in der Welt des Bürgertums, einschließlich 
der adligen Kreise, eine allgemeine Stimmung der Sorglosigkeit, Selbst- 
sicherheit, die schon an sich geeignet war, Sorgen zu erwecken. Die Leistung 
des deutschen Volkes, als Ganzes betrachtet, beschränkte sich, so gut wie 
ausschließlich, auf die Schlachtfelder von 1866 und 1870/71. Die politische 
Einigung zum Reich, der politische und wirtschaftliche Ausbau nach 1871 
lag doch, genau genommen, nur in den Händen und auf den Schultern des 
einen Mannes, der die einzige, freilich unerschütterliche, Stütze an seinem 
Kaiser hatte und außerdem in zweiter Linie an den durch den Bundesrat ver- 
tretenen deutschen Bundesfürsten, die gewiß waren, daß unter Bismarcks 
Führung ihre vertraglichen Rechte und das Reich in sicherer Hut waren. 
Aber das deutsche Volk ? In jedem Bundesstaat hatte es ‚seine Vertreter“ 
und vor allem in dem sogenanntenReichstage, der eben kein wahrer Reichs- 
tag war. Wir haben gesehen, wie Bismarck schon gleich nach 1870 sogar im 
Preußischen Abgeordnetenhause und im Reichstage rechts und links und in 
der Mitte erbitterte Gegner von wachsender Stärke vorfand und einen großen 
Teil seiner Kraft in diesem Reichstag Jahr für Jahr aufreiben mußte, den 
er selbst geschaffen hatte. 
Das ‚Volk‘ — man kann dieses Volk in der Anwendung auf die damalige 
Zeit nur in Anführungszeichen setzen — hatte sich bald gewöhnt, das neue 
Reich für eine Selbstverständlichkeit zu halten und sich auch merkwürdig 
schnell eine erhebliche lärmende Überheblichkeit anzueignen: in drei 
Kriegen hatte man gesiegt, sogar über den Erbfeind, die Franzosen, also: 
Uns kann nichts mehr passieren! Jener redefreudige ‚„Patriotismus‘‘ der 
Frankfurter Nationalversammlung und der folgenden anderthalb Jahr- 
177
	        
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