dem Brief an Bismarck angedeutet hat, noch in Zeiten seiner Gesundheit auf
den Thron gekommen, versucht haben würde, auf die Bundesfürsten zu
drücken, um sıe allmählich ganz auszuschalten, läßt sich nicht beweisen, ist
auch unwahrscheinlich. Auf die Möglichkeit, daß er, bei längerer Regierung,
einen Parlamentarismus nach englischem Muster eingeführt und damit auch
den Beifall vieler Bundesfürsten gefunden haben würde, wurde schon hin-
gewiesen.
Will man, wie es allgemein der Fall war, annehmen, Kaiser Friedrich hätte
sich mit aller Aufrichtigkeit bestrebt, die Bismarcksche Reichspolitik in ihrer
bisherigen großen Linie weiter bestehen zu lassen, so würde ihn doch schon
die große wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wohl zum Einschlagen
mancher neuer Wege veranlaßt haben und dürfte er, bei seiner eigenen, in
bestem Sinne nationalliberalen Anschauung, sich in der Hauptsache wohl
auf den deutschen Liberalismus gestützt haben. Dieser freilich war nicht der
alte geblieben, sondern das jüdische Element in ihm wurde zunehmend seine’
politische und wirtschaftliche und auch ideologische Dominante. Nicht we-
niger als in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts galt in Eu-
ropa und in einem großen und wachsenden Teil der deutschen Bevölkerung
ein liberales Regime — also parlamentarische Regierung und über dieser ein
König oder Kaiser, der wohl ‚‚herrscht, aber nicht regiert‘, und der, wie in
England, „nicht Unrecht tun kann“ — als die natürliche Entwicklung
eines Volkes aus der Untertänigkeit zur Freiheit: denn es herrschte ja nun
durch seine gewählten ‚‚Vertreter‘‘, und diese waren ihm, dem Volke, ver-
antwortlich. Das war ‚Entwicklung‘, das war ‚Fortschritt‘!
Anfang der sechziger Jahre waren Liberale und Demokraten diesem ihrem
Ziel sehr nahegekommen, auf Kosten der Stellung des Königs von Preußen.
Wäre Bismarck damals nicht Ministerpräsident geworden, so hätte der
König zugunsten seines Sohnes abgedankt, und Preußen wäre zwangsläufig
ein parlamentarischer Staat geworden. Kampf und Sieg Bismarcks im Parla-
ment und in der Außenpolitik hoben die preußische Monarchie zu einer
Macht, Autorität und Höhe, wie sie seit Friedrich dem Großen nicht vor-
handen — ja undenkbar gewesen war. Die Überlegenheit und die Kraft Bis-
marcks ließen diese Stellung der Monarchie und damit des Kaisertums und
der Person des Kaisers selbst unantastbar bleiben. Verschwunden ist aber
während des Doppeljahrzehnts 1870 bis 1890 das liberale und demokra-
tische Trachten nach dem parlamentarischen Regime für das Reich
niemals. Um so weniger war das der Fall, als ja Bismarck sich gezwungen
gesehen hatte und mit Recht für unvermeidlich hielt, dem Reich zunächst
weitgehend mit liberaler Hilfe seine erste Basierung und Einrichtung zu
geben.
183