Umständen würde er nach den nächsten Reichstagswahlen schärfere For-
derungen eingebracht haben. Das war im Jahre 1889. Im nächsten Jahre,
1890, mußten Neuwahlen zum Reichstage erfolgen, und zwar wurden diese
schon zum Februar anberaumt. — Diese Vorgeschichte zu skizzieren, war
notwendig, weil ohnesie der Beginn der Meinungsverschiedenheiten zwischen
dem Kanzler und dem Kaiser über die soziale Frage und deren Behandlung
nicht verständlich ist.
Kaiser Wilhelm II. erzählt in seinem Buche ‚‚Ereignisse und Gestalten“
über den Beginn seiner Differenzen mit Bismarck in der sozialen Frage
unter anderem das Folgende:
„Es handelte sich um die Erneuerung des Sozialistengesetzes, einer poli-
tischen Maßregel des Fürsten Bismarck, um den Sozialismus zu bekämpfen.
Ein bestimmter Paragraph sollte gemildert werden, um das Gesetz zu retten.
Bismarck wollte nicht. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen. Ich befahl
einen Kronrat. Bismarck sprach im Vorzimmer mit meinem Adjutanten und
erklärte: Seine Majestät vergesse ganz, daß er Offizier sei und ein Portepee
trage, er müsse auf die Armee zurückgreifen und sie gegen die Sozialisten
führen, falls diese zu revolutionären Taten schreiten sollten: der Kaiser solle
ihm freie Hand lassen, dann werde man endlich Ruhe haben. Im Kronrat
blieb Bismarck bei seinem Standpunkt.‘‘ Die einzelnen Minister, zur Mei-
nungsäußerung aufgefordert, hätten sich lau ausgesprochen, bei der Ab-
stimmung hätten alle gegen den Kaiser gestimmt. ‚‚In tiefem Unmut‘ habe
er, der Kaiser, dies mit seinem Kabinettschef besprochen, dieser habe einige
der Minister zur Rede gestellt und die Antwort erhalten, man könne ihnen
nicht zumuten, gegen den Reichskanzler zu stimmen.
Im Jahre 1922 erschien das genannte Buch des Kaisers, drei Jahre nach
dem großen Zusammenbruch, und selbst damals vertrat, nach dem Ton seiner
Niederschrift, Wilhelm II. die Ansicht, damals, 1889, dem Fürsten Bismarck
gegenüber recht gehabt zu haben. Sachlich schwer begreiflich ist, daß der
junge Kaiser 1889, ohne Erfahrung auf irgendeinem Gebiet, ohne jede
Kenntnis der Sozialdemokratie, vom überheblichen Drange, sich zur Geltung
zu bringen, und schließlich gegen den Kanzler dessen eigenes Ministerium
aufzuhetzen, sich hinreißen ließ. Diesen seinen jugendlichen Standpunkt
aber noch 1922 als richtig zu vertreten, ist in der Tat erstaunlich. Der
Kaiser war mithin überhaupt nicht für Erneuerung des Sozialistengesetzes
gewesen, weil er es von vornherein gemißbilligt hat; er ist aber, wie es hier-
nach scheint, für Verlängerung des ‚gemilderten‘‘ Gesetzes gewesen. Die
Worte, die Bismarck im Vorzimmer dem Adjutanten gesagt haben soll,
stehen dem Sinne nach auf demselben Boden wie die Sätze des Kanzlers in
dem Briefe vom 6. Januar 1888:
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