Full text: Von Potsdam nach Doorn.

ja sogar zu bekämpfen. Es hieße das nicht nur das Andenken des alten 
Kaisers, sondern auch den Dienst meines jetzigen Herrn vollständig ver- 
raten und verlassen. Es ist das in der Tat eine fast beleidigende Zumutung, 
die mir damit gestellt wird.‘ 
Diese Sätze aus der vorletzten Rede, die Bismarck im Reichstage gehalten 
hat, fügen sich aufschlußreich in das Gesamtbild der Kaiser-Kanzler-Krise 
ein: man hatte im Lande verbreitet, Bismarck sei gegen alle Fortführung der 
bisherigen Sozialpolitik und habe sich sogar gegen die jetzige Verwirklichung 
der Altersversicherung gesträubt, außerdem gesagt, er habe an der Vorlage 
keinerlei Interesse. Diese Gerüchte hatten einen solchen Umfang angenom- 
men, daß der große Mann sich sogar gezwungen sah, auf der Tribüne des 
Reichstags Stellung gegen die Verleumdungen zu nehmen. Richtung und 
Ziel solcher Ausstreuungen waren klar: der junge Kaiser will wahrhaft sozial 
vorgehen, der gewalttätige Bismarck den Arbeiter mit Gewalt niederhalten 
und ihn sozial verelenden lassen! 
Der Kaiser, so wurde von verschiedenen Seiten im Laufe der Jahre be- 
richtet, hatte im Winter 1889/90 nicht selten erklärt: er wolle ein Arbeiter- 
kaiser sein. Sein Großvater habe sich auf den Soldaten gestützt, sein Vater 
auf den Bürger, er wolle sich ganz auf den Arbeiter stützen. Bei anderer Ge- 
legenheit sagte er, er habe denselben Entschluß gefaßt wie Friedrich der 
Große, er wolle sein ‚un roi des gueux“ (ein König der Bettler). Es kann kein 
Zweifel sein, daß ihm damals ein solches Selbstporträt für die Zukunft vor- 
schwebte; er verglich sich gern mit dem Großen König. Ebenfalls später 
noch sagte der Kaiser: mit der Gewaltpolitik Bismarcks gegen die Arbeiter- 
schaft sei es so nicht mehr weitergegangen, es sei ein Glück, daß das Sozia- 
listengesetz nicht mehr zur Erneuerung gelangt sei. — Was gedachte Wil- 
helm II. an die Stelle zu setzen ? 
In Sachsen hatte man einige Arbeiterschutzmaßnahmen eingeführt: in 
der Hauptsache gesetzliche Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit 
und der Sonntagsarbeit. Die Arbeitgeberschaften sträubten sich dagegen, 
und die sächsische Regierung wünschte diese Arbeiter-Schutzgesetzgebung 
überhaupt gemildert und dafür auf das ganze Reich ausgedehnt. Bismarck 
war dagegen, weil seiner Ansicht nach der Arbeiter seiner Selbstbestimmung 
beraubt werde. ‚Ich glaube nicht, daß der Arbeiter an sich dankbar dafür ist, 
daß man ihm verbietet, Geld zu verdienen an Tagen und in Stunden, wo er 
dazu geneigt ist.‘ Er, Bismarck, habe hinsichtlich der Sonntagsarbeit bei 
Arbeitern Zustimmung immer nur mit dem Vorbehalt gefunden, daß dann 
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