Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Damals, Ende der achtziger Jahre und 1890, glaubte Wilhelm II. also: 
die Berufung der Internationalen Arbeiterkonferenz und seiner Arbeiter- 
erlasse würden die Reichstagswahlen für 1890 in dem Sinne günstig be- 
einflussen, daß eine große Anzahl von Arbeitern nicht für die Sozialdemo- 
kratie stimme. Die Auffassung und die auf sie gestützte politische Rechnung 
erwies sich schnell als falsch: im Gegenteil erhielt die Sozialdemokratische 
Partei in den Februarwahlen 1890 einen großen Stimmenzuwachs. 
Die Partei hatte eine geschickte Agitation in dem Sinne getrieben: der 
Kaiser und die herrschenden Klassen machten jetzt der Arbeiterklasse alle 
möglichen Versprechungen. Das sei der Beweis dafür, daß sich die Sozial- 
demokratische Partei auf dem richtigen Wege befinde. Man habe Angst vor 
ihr. Es zeige sich auch darin, daß das Bismarcksche Sozialistengesetz nicht 
erneuert werden solle. Alles in allem also: selbst Bismarck ist gescheitert mit 
seiner brutalen Unterdrückungspolitik, das werktätige Volk hat durch den 
Heroismus seines Widerstandes gegen das Sozialistengesetz einen gewaltigen 
Erfolg errungen. Jeder Arbeiter gebe. seine Stimme der völkerbefreienden 
internationalen Sozialdemokratie, dann ist der vollständige Sieg gesichert! 
Der Kaiser sagte in einer zitierten Äußerung, er habe seinerseits, um die 
Seele des deutschen Arbeiters zu gewinnen, heiß gerungen. ‚Ich war von 
einem klaren Pflicht- und Verantwortlichkeitsbewußtsein meinem ganzen 
Volke, also auch den arbeitenden Klassen gegenüber, erfüllt. Was diesen von 
Rechts wegen und billigerweise zukam, sollte ihnen werden, und zwar, so- 
weit es angängig oder notwendig war, wo der Wille und das Vermögen der 
Arbeitgeber aufhörten, von seiten des Landesherrn und seiner Regierung. 
Sobald ich erkannt hatte, daß Verbesserungen notwendig waren, zu denen 
sich die Industrie zum Teil nicht verstehen wollte, griff ich aus Rechtsgefühl 
für die Arbeiterschaft ein ... Ich wußte genau, daß bei den maßlosen Forde- 
rungen der sozialistischen Führer die unberechtigte Begehrlichkeit stets neu 
entfacht werden sollte. Aber gerade um den unberechtigten Aspirationen mit 
reinem Gewissen und überzeugend entgegentreten zu können, durften den 
berechtigten die Anerkeunnng und Förderung nicht versagt werden.“ 
Diesem seinem Standpunkt stellte er denjenigen Bismarcks von sich aus 
gegenüber: 
„Bismarck war — das möchte ich nach dem Gesagten betonen — nicht 
etwa arbeiterfeindlich. Im Gegenteil! Er war ein viel zu großer Staats- 
mann, um die Wichtigkeit der Arbeiterfrage für den Staat zu verkennen. Er 
faßte diese ganze Angelegenheit vom rein staatlichen Zweckmäßigkeits- 
standpunkt auf. Der Staat solte für die Arbeiter sorgen, soweit dies der 
Regierung gut schien. Von einer Mitwirkung der Arbeiter bei diesem Werke 
war kaum die Rede. Verhetzungen und Auflehnungen sollten scharf, nöti- 
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