Full text: Von Potsdam nach Doorn.

anerkennen, mit ihnen Kompromisse machen, versuchen, gemeinsam Re- 
formen ein- und durchzuführen. Das hat er, obgleich er nicht, wie Bismarck, 
1815 geboren war, auch nicht dem preußischen Adel angehörte, nicht getan, 
vielmehr, ohne einen Augenblick zu zögern, Ausrottung verkündet und 
durchgeführt. Daß der Erfolg ihm recht gegeben — ja keinen Augenblick in 
Frage gestanden hat, ist schon lange eine sogenannte Binsenwahrheit. Auf 
Wegen, wie Wilhelm II. sie sich dachte, hätte Adolf Hitler niemals die 
soziale Frage lösen, noch den Marxismus besiegen, noch den nationalsozia- 
listischen Staat errichten und emporführen können. 
Man kann das gefühlsmäßige Bedenken des Kaisers begreifen, wenn er 
sagte: Er wolle nicht gleich nach seinem Regierungsantritt im Blut seiner 
Untertanen waten, er wolle nicht ähnliche Beinamen tragen wie sein Groß- 
vater nach 1848, übrigens ungerechterweise, als ‚Kartätschenprinz‘. Bis- 
marck antwortete dem Kaiser: Jelänger er zögere, desto tiefer müsse er einst 
im Blut waten. Die Katastrophe von 1918/19 übertraf Bismarcks Befürch- 
tung weit. 
Lange bevor die Großmächte des Westens und Rußland 1914 den Ver- 
nichtungskrieg gegen das Deutsche Reich begannen, haben sie mit Recht die 
Sozialdemokratie Deutschlands als ihren Bundesgenossen betrachtet. Seit 
langem verfolgten sie die deutschen Reichstagswahlen mit größter Spannung 
und begrüßten das Anwachsen der Sozialdemokratie mit Freude und zu- 
nehmender Erleichterung. Das Wort jenes britischen Ministers während des 
Weltkrieges ist bekannt: Die deutschen Heere seien unbesiegbar, aber man 
setze die Hoffnung des Sieges auf den Deutschen Reichstag. Die Hoffnung 
erfüllte sich, und die Tatsache ist geschichtlich und unbestreitbar, daß der 
Dolch, der nicht allein in den Rücken des deutschen Heeres, wie der eng- 
lische General Maurice schrieb, sondern auch des politischen Deutschlands 
geführt wurde, sich in der Hand der Marxisten befand und von ihnen bereit- 
gehalten wurde. 
Der Kaiser hat während seiner ganzen Regierungszeit niemals begriffen, 
daß das Problem: Reich, beziehungsweise Staat, und Sozialdemokratie eine 
Machtfrage war, aufgeworfen vom Marxismus. Jahrzehnt für Jahrzehnt 
wurde der Arbeiterschaft durch ihre Führer auf Grund der marxistischen 
Lehre in Reden, in der Presse, in den sozialdemokratischen Büchereien vor- 
gehalten: der Staat, das Reich, der nationale Gedanke, die vom Staat ge- 
schützte Religion, alle Klassen, die nicht Arbeiter sind — sind eure T'od- 
feinde, in Friedenszeiten eure Zwingherren und Blutsauger, im Kriege seid 
ihr ihnen Kanonenfutter für ihre Eroberungs- und Raubsucht und Geldgier. 
Wenn ihr nur wollt, der Sozialdemokratie folgt und Disziplin haltet, so 
kommt bald der Augenblick, wo die internationale, völkerbefreiende Sozial- 
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