Full text: Von Potsdam nach Doorn.

demokratie, deren Hauptmacht ihr hier in Deutschland darstellt, den Sieg 
über die anderen Klassen und Parteien erringt, die Monarchie durch Um- 
sturz beseitigt und allein die Macht im Staate besitzt. Dann gestaltet ihr 
Arbeiter euch als Herrscher den sozialistischen Zukunftsstaat, wo es keinen 
Kriegsdienst, keine Steuern, keine Klassen und höchstens fünf bis sechs 
Stunden Arbeit täglich geben wird. Dieser Zukunftsstaat bedeutet zugleich 
den ewigen Völkerfrieden, da werdet ihr nicht mehr zur Schlachtbank 
geführt! 
So ging die eine Weise des Zauberliedes, das die Massen betörte. Und das 
andere entsprach diesem : Seht nur, wie die Angst der oberen Klassen vor uns 
wächst, wie der Kaiser nicht einmal mehr den Mut hat, das Ausnahmegesetz 
gegen unsere Partei zu erneuern, wie er uns durch einige lächerliche Re- 
formen und bombastische Reden zu gewinnen und von der Verfolgung 
unseres großen herrlichen Zieles abzubringen versucht. Mit jedem Jahr, mit 
jeder Reichstagswahl werden wir stärker, nimmt der Zustrom zur Sozial- 
demokratie zu, der Sieg ist unssicher, und bald wird sich verwirklichen, was 
unser großer Marx am Schluß seines berühmten Manifestes sagte: Die Prole- 
tarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen! 
— Dieser Glaube: Niemand kann uns besiegen, nichts kann uns widerstehen! 
wurde nach der Nichterneuerung des Sozialistengesetzes felsenfest, und die 
Anziehungskraft der Partei wuchs mit dem Fall des Sozialistengesetzes 
gewaltig. 
Der Plan, den Bismarck 1889/90 dem Kaiser vorschlug, war in der großen 
Linie: zunächst der Versuch, demnächst eine Vorlage eines neuen schärferen 
Sozialistengesetzes im neuen Reichstage durchzubringen; gelang dies nicht, 
so mehrmals den Reichstag aufzulösen, um eine Mehrheit für die Regierung 
zu gewinnen. War auch das erfolglos, so sollten die deutschen Bundes- 
fürsten zusammentreten, den 1871 geschlossenen Bund für aufgelöst er- 
‚klären, gleich wieder zur Schließung eines neuen Bundes zusammentreten, 
diesem eine neue Verfassung geben und das allgemeine, geheime, gleiche und 
direkte Wahlrecht durch ein anderes beseitigen. Dies war der Weg, den Bis- 
marck gehen wollte. Er war entschlossen, wie er wiederholt auch später ge- 
sagt hat, alles daranzusetzen, um seinen, wie er meinte, größten Fehler auch 
selbst wieder zu beseitigen. In den „Gedanken und Erinnerungen“, also 
nachdem sein Plan am Kaiser gescheitert war, gibt er noch der Hoffnung 
Ausdruck: das deutsche Volk werde klug und stark genug sein, um das all- 
gemeine Wahlrecht, wenn es sich weiter als schädlich erwiese, zu beseitigen. 
Bei solchen Überlegungen und bei diesem Plane ging es Bismarck nicht, 
wie ihm später untergeschoben worden ist, um persönlichen Haß, um irgend- 
eine Doktrin, um Arbeit gegen den Kaiser, sondern, wie immer, um das 
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