Full text: Von Potsdam nach Doorn.

laß mit Dazwischenschießen wird es wohl in der nächsten Zeit nicht ab- 
gehen.‘ Der Kaiser nahm dabei keine Rücksicht auf die Anwesenheit der 
Dienerschaft.‘‘ 
Bei einem Streik der Straßenbahnangestellten im Jahre 1900 tele- 
graphierte der Kaiser an das Generalkommando des Gardekorps: 
„Ich erwarte, daß beim Einschreiten der Truppen mindestens fünf- 
hundert Leute zur Strecke gebracht werden.‘‘ Es war selbstverständlich, daß 
auch diese Äußerung schnell in die Öffentlichkeit gelangte. 
Von anderen ähnlichen blutrünstigen Befehlen ähnlicher Art ist wieder- 
holt berichtet worden, aber das Beispiel mag genügen. 
Der Kaiser war weit entfernt, Blutvergießen dem Volke gegenüber wirk- 
lich zu wollen. Ein solcher Befehl und ähnliche Weisungen waren bei ihm 
lediglich sozusagen impulsive, sozusagen rednerische Entgleisungen, Rodo- 
montaden vor den respektvoll Zuhörenden. Wie man sie beim General- 
kommando oder anderen Behörden eingeschätzt hat, geht schon daraus her- 
vor, daß sie nie ausgeführt wurden. Der Schaden freilich, den sie in der 
Öffentlichkeit anrichteten, war groß. 
Die Entwicklung der Sozialdemokratie und der sozialen Frage ist also 
unmittelbar mit den persönlichen Eigenschaften des Kaisers verknüpft. 
Deshalb mußte über diese einiges vorweggenommen werden, bevor versucht 
wird, eine eingehendere Darstellung des Wesens des Kaisers zu geben. 
Man weiß nicht, ob Wilhelm II. sich späterhin noch an sein Wort erinnert 
hat: die Sozialdemokratie möge man ihm nur überlassen, er werde mit ihr 
schon fertig werden, sie sei eine ephemere Erscheinung. Die Auffassung hat 
er wirklich zeitweise gehabt oder sich selbst suggeriert. Sie hat sich furchtbar 
gerächt an ihm und am Deutschen Reiche und Volke. Man kann einwenden: 
der Kaiser könne doch nichts dafür, daß er nicht die Kraft und Rücksichts- 
losigkeit Bismarcks besessen habe. Gewiß nicht, und die Reinheit seiner 
Ziele soll ihm in keiner Weise abgesprochen werden. In zwei Worten aus- 
gedrückt, kommt aber weder der zeitgenössische Beurteiler noch der ge- 
schichtliche um das Urteil herum: Kaiser Wilhelm II. zeigte sich der großen 
Aufgabe, die ihm die soziale Frage und die internationalistische Sozialdemo- 
kratie stellten, nicht entfernt gewachsen. Ja er erkannte sie nicht einmal in 
ihrer Größe und in ihrem Wesen, während der alte Bismarck, als sie vor ihm, 
dem Siebzigjährigen, als Neuerscheinungen seines Lebens auftauchten, ihr 
Wesen und die Gefahr sofort in ihrem Kern erkannte und ebenso schnell den 
Weg sah, der in Ansehung der damaligen Verhältnisse gegangen werden 
mußte. 
Ohne Interesse ist auch die Feststellung heute nicht, daß der General- 
feldmarschall Graf Moltke, dessen klares und ruhiges Urteil niemals be- 
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