Full text: Von Potsdam nach Doorn.

zweifelt worden ist, die Notwendigkeit des Verfahrens der Sozialdemokratie 
gegenüber nicht anders als Bismarck beurteilte. Ende des Jahres 1890 wurde 
ein Brief Moltkes veröffentlicht, in dem er einen Brief eines in London 
lebenden Deutschen beantwortete, der ihn um sein Urteil über die soziale 
Frage gebeten hatte. Moltke schrieb darin u. a.: 
‚Vor allem kommt es darauf an, die unteren Volksklassen aufzuklären 
über ihr eigenes Interesse. Das ist die Arbeit der Schule und Kirche durch 
ein Jahrhundert. Wir stehen aber nahe vor dem Ausbruch einer gewaltigen 
Bewegung und müssen der Gefahr schon jetzt ins Auge sehen ... Die 
dringend nötige Sozialreform kann nur durchgeführt werden von oben herab, 
durch ein starkes Königtum, welches den Willen und die Macht dazu be- 
sitzt — und das haben wir in Deutschland. — Das Gesetz gegen die Sozial- 
demokratie (Bismarcks Sozialistengesetz) war das humanere Verfahren; es 
wirkte präventiv. Nach seiner Aufhebung bleibt nur die rück- 
sichtslose Repression.“ 
Das war also genau Bismarcks Auffassung. 
Der Fürst Chlodwig zu Hohenlohe war nach Caprivi Kanzler geworden. 
Er schrieb während jener inneren Spannung 1895 in sein Tagebuch: 
„Ich weiß, daß eine Anzahl Politiker und hoher Streber darauf ausgehen, 
mich bei Seiner Majestät zu diskreditieren. Sie wollen einen anderen Reichs- 
kanzler und geben vor, daß es einer energischen Aktion bedürfe. Was können 
sie damit erreichen ? Konflikt mit dem Reichstag führt zu Auflösung und 
Neuwahlen, die zu einer Niederlage der Regierung. Abermalige Auflösung 
und Staatsstreich führt zum Konflikt mit den verbündeten Regierungen, zu 
Bürgerkrieg, zu Auflösung des Deutschen Reichs. Denn das Ausland wird 
nicht ruhig bleiben und sich einmischen, wenigstens Frankreich. Meine 
Politik ist die, mit dem Reichstag auszukommen.“ 
Im Winter des nächsten Jahres stimmt Hohenlohe in einer Notiz der An- 
sicht eines Bekannten zu, der gesagt habe: ‚Gehe es so fort wie jetzt, so 
werde die Monarchie entweder in Republiken übergehen oder, wie in Eng- 
land, eine Art Schattenmonarchie werden.“ 
So urteilt schon damals dieser alte, viel erfahrene, kluge und skeptische 
Staatsmann. Freilich: ein Mann der Tat war er nicht und deshalb als Reichs- 
kanzler nicht an seinem Platz, aber die Gefahr sah er klar. 
Der schon genannte liberale Beurteiler und Pressevertraute Bülows, 
Geheimrat Hamman, schrieb von den Jahren um 1895 und nachher: 
„Kaiser und Arbeitervolk sprachen nicht mehr dieselbe Sprache. Wäh- 
rend in den Reden des Kaisers die Begriffe Staat und Gesellschaft, Obrig- 
keit und Untertan, die ein Nebeneinander und Miteinander bedeuteten, noch 
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