Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Drang der Arbeiterwelt, zu lernen und sich zu bilden, ferner in Anbetracht 
des Bewußtseins ihrer politischen Rechte entbehrt das Duzen einer gerecht- 
fertigten Grundlage und kann nur schädlich wirken ... Wäre das allgemeine 
Wahlrecht nicht vorhanden, so erschiene es doch als gegen das Gerechtig- 
keitsgefühl, den Arbeiter anders anzureden als andere Klassen. Ein auf 
nationaler Basis stehender Arbeiter muß sich beeinträchtigt fühlen, wenn er 
geduzt, aber ein ultramontaner Pfarrer mit Sie angeredet wird. Die sozial- 
demokratische Presse nutzte diese Angewohnheit des Kaisers stets sorg- 
fältig aus ... Ebenso verkehrt ist es, wenn der Kaiser Soldaten mit Du 
anredet. Im militärischen Leben steht die Sache so, daß die Kommando- 
sprache beziehungsweise das Exerzierreglement die Frage des Du oder Sie 
zwar nicht: kennt ... Ich kann es auch nicht für entsprechend und nützlich 
halten, wenn der Kaiser die Soldaten mit Ihr und den einzelnen mit Du 
anredet.‘ 
Das wurde nicht rückschauend geschrieben, sondern mit dem Blick in die 
unmittelbare Gegenwart und sehr maßvoll im Ausdruck, nicht zum wenig- 
sten deshalb, weil der Verfasser aufrichtiger Monarchist war und für die 
Zukunft der Monarchie fürchtete. — 
Die Äußerungen vom Fürsten Hohenlohe und von anderen werfen Streif- 
lichter auf die Ratlosigkeit der Zeit und der ‚leitenden‘ Persönlichkeiten. 
Wir haben die Periode der letzten Jahre vor dem Jahrhundertwechsel 
herausgegriffen, weil sie die Entscheidung brachte für die im ganzen Reich 
erörterte Frage: ob man der ‚Entwicklung‘ der Dinge freien Lauf lassen 
solle oder nicht. Man entschied sich, wie Friedrich der Große von den Kriegs- 
räten sagte, nach der ‚‚timideren Seite‘, tat also nichts. Schroff standen ein- 
ander auch die nichtsozialistischen Parteien gegenüber. Keine einzige von 
ihnen erkannte die soziale Frage in ihrer Tiefe, Weite und Vielseitigkeit. 
Möglicherweise sind einige einzelne Persönlichkeiten vorhanden gewesen, die 
einen nicht allein oberflächlichen Einblick hatten, auch sie aber erfaßten 
nicht das Wesentliche, nämlich die Notwendigkeit: die eigentliche Arbeiter- 
frage und die marxistische Sozialdemokratie getrennt zu sehen und dem- 
entsprechend zu behandeln. Bismarck war beinahe der einzige, der diese Er- 
kenntnis gewann und seinem Wesen nach unmittelbar demgemäß handeln 
wollte. 
Die Sozialdemckratie hatte wieder ihr ‚„Schweineglück‘, ihre Gegner 
konnten sich nicht einigen, ein starker Mann war nicht in Sicht; wäre er in 
Sicht gewesen, so würde der Kaiser ihm nicht die notwendigen Vollmachten 
gegeben haben. Wilhelm II. beschränkte sich auf gelegentlich zornige Reden 
und Drohungen und ließ Gesetzvorlagen machen, so die berühmte ‚‚Zucht- 
hausvorlage“, und zog solche zurück, wenn man ihm sagte, die „Stimmung 
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