Full text: Von Potsdam nach Doorn.

im Lande“ sei dagegen, oder wenn das preußische Parlament eine Vorlage 
fallen ließ, so brachte der Kaiser es nicht fertig, sein anfängliches Ziel weiter- 
zuverfolgen. Hinsichtlich des Reichstages dürfte er sich ähnliche furchtsame 
Überlegungen gemacht haben wie Hohenlohe: vergebliche Reichstags- 
auflösungen, Verfassungsänderung, revolutionäre Unruhen, Änderung der 
Reichsverfassung, Eingreifen des Auslandes, Ende des Deutschen Reiches! 
Wilhelm II. ließ immer offensichtlicher sein anfängliches Ideal des ‚‚po- 
pulären Absolutismus‘ fallen, in Vergessenheit geraten. 
Die Periode seiner Regierung begann, da der Kaiser, und nicht nur er, in 
der Armee das letzte Rettungsmittel erblickte. Aus solchen Vorstellungen 
entsprangen jene Affektäußerungen des Kaisers, von denen einige angeführt 
wurden, war auch der beinahe komische Gedanke entstanden, die neue 
Kaserne des Alexander-Regiments mit Schießscharten zu versehen, für den 
Fall, daß ‚‚die Berliner wieder frech werden‘ sollten, wie im Jahre 1848. — 
Dasselbe Motiv, im Grunde genommen nur ein Angstmotiv, lag auch jenen 
Weisungen zugrunde: mindestens fünfhundert Streiker müßten ‚zur 
Strecke‘ gebracht werden, und ähnliche ohnmächtige Ausbrüche kaiser- 
licher Enttäuschung und Ratlosigkeit, Schwäche und der Wunsch, stark 
zu scheinen, sei es auch nur der Tischgesellschaft und dem Bedienungs- 
personal gegenüber. 
‚Die alte militärische Regel :: selbst etwas Unrichtiges zu tun, sei immer noch 
besser, als gar nichts zu tun, gilt meist, vielleicht ohne Ausnahme, auch für 
die Politik, es sei denn, daß die Zeit für denjenigen Teil arbeitet, der be- 
schließt, vorläufig keine entscheidenden Handlungen vorzunehmen, sondern 
einen noch günstigeren Augenblick abzuwarten. So lag es aber nicht, sondern 
an der Entschlußlosigkeit, die Wilhelm II. sich und anderen durch starke 
Worte verbergen wollte. 
Von einer Reichstagswahl zur anderen wurde für den jeweiligen Reichs- 
kanzler, also für die Regierung, die innere Lage ungünstiger, das Regieren 
schwieriger, ganz abgesehen noch von den Erschwerungen, die aus den aus- 
wärtigen Lagen und Krisen sich ergaben. Die Parteizerfahrenheit wuchs 
weiter, und der zur Zeit gefährlichste Reichsfeind, die Sozialdemokratie, 
nahm unausgesetzt an Macht und Prestige zu, abgesehen von einem kurzen 
Rückschlag im Jahre 1906/07. Auch so betrachtet, war kein Wunder, daß 
sich weite Kreise des kleinen Bürgertums, außerdem nicht wenig aka- 
demische Jugend der Sozialdemokratie zuwandten. Dazu kam, als neues 
Produkt furchtsamer Hoffnungen, das Schlagwort: Die Sozialdemokratie 
werde sich mit ihrer zunehmenden Stärke langsam, aber sicher zu einer 
bürgerlichen und damit staatserhaltenden, verantwortungsbewußten Partei 
„durchmausern“; das sei, so predigten besonders die demokratische und 
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